Arbeitsjournal. Mittwoch, der 23. Mai 2007.

4.48 Uhr:
[Maderna, „Widmung“ für Violine.]
Die heikle Stelle, an der sich zum ersten Mal der Vulkan bemerkbar macht – ein leichtes und flüchtiges Beben nur, auf der Piazza vor San Vicenzo, Stromboli, als der „Held“ des Gedichts der jungen Frau nachgelaufen ist, sie aber quasi sofort aus dem Blick verliert – und daß dann die alte Frau, >>>> die vom Feld, wieder auftaucht, ihn ansieht und, ja, einmal nickt. Alles zufällig, aber eine Verstörung muß durch die Verse laufen, vielleicht den Rhythmus dabei störend, f e i n störend, erst einmal.
Das geht mir seit gestern abend durch den Kopf.
Latte macchiato. Zu Madernas feiner Musik. (Die hier l e i s e klingt, schon wegen der Nachbarn, weil es noch so früh ist, und weil es zu warm ist, um die guten Kopfhörer aufzusetzen, und das mag ich momentan eh nicht tun, denn daß sich in die Musik die frühen Morgengeräusche mischen, die durchs seit Wochen sperrangelweite Oberfenster hereinwehen, ist angenehm und nimmt der Musik das Konservierte, das fast jede Aufnahme, weil sie aufgenommen-fixiert ist, hat).

Aber ich hatte vorgestern/gestern auch wieder bisweilen Zweifel, ob so etwas, das ich hier mit der Stromboli-Dichtung versuche, überhaupt zeitgemäß ist – und abermals war die Frage da, weshalb ich auf die alten Versformen zurückgreife; eine Frage, die viel mehr noch als AMNION die BAMBERGER ELEGIEN meint – ob nicht das „frei“-rhythmische Arbeiten d o c h eher angemessen war und wäre — Dann aber gleich wieder mein Unwille, etwas nicht mit allen künstlerischen Mitteln zu gestalten, die einem zur Verfügung stehen und stehen k ö n n t e n und die dem Gegenstand entsprechen. Das ist eine Frage nach der Kunst überhaupt, die ihre Handwerksseite unweigerlich einschließt. „Ich w i l l nicht, daß eine Singstimme ausgebildet klingt“, sagte mir einmal ein Verteidiger der Pops, „ich will, daß sie a l l t ä g l i c h klingt – als wäre es eine Stimme von uns.“ Damals war ich perplex über diese Aussage; jetzt wird mir ein wenig klar, was sie meinte. (Daß sie ganz besonders auf dem Schein beharrte, läuft dabei ungesagt, vielleicht auch unbewußt mit: denn die Stimmen der U-Musik klingen ja nur deshalb „natürlich“, weil unter ihnen die Technik mitläuft, die es ermöglicht, also ein Zusammenhang, der entfremdeter – menschenferner – gar nicht sein könnte – es sei denn, man akzeptierte bei Gesang immer nur wenige und ‘akustische’ Instrumente… – Daß ich das jetzt assoziiere, hat irgendwo – ich bekomm es noch nicht fixiert – mit den Grundfragen meiner Versdichtung zu tun).

5 thoughts on “Arbeitsjournal. Mittwoch, der 23. Mai 2007.

  1. Tradition ‘Alte Versformen…’
    Vielleicht kann ihnen dieses BENJAMINZITAT bei ihrer Überlegung hilfreich sein. Was Sie da als ‘Schein’ ‘diffamieren’, das kann durchaus – im Sinne Benjamins – als Imaginationsschema zur Tradition gehören, ja, diese erst ausmachen!

    1. @walhalladada und zum tradierten Schein. Selbstverständlich ist auch die Kontinuität der alten Versformen, an denen sich schon etwas vor mir zum Beispiel >>>> Durs Grünbein und wenige andere mit uns versuchten und versuchen, ein Ausdruck von Schein: Wir stellen diese Kontinuität imgrunde erst wieder her. Ich denke, daß dabei auch politische, europäisch/abendländische Gründe zumindest unbewußt mitwirken. Meine “Diffamierung” hat allerdings den Umstand im Blick, daß – am Beispiel der U-Musik – von Natürlichkeit gerade da gängig gesprochen wird, wo sie am entferntesten ist… indes wird sie von den meisten Menschen offenbar gerade da empfunden (wenn man der Marktbarkeit von etwas folgt, das sich in “Charts” ausdrückt) – während das dem Menschen viel Nähere einer nicht-technisierten, aber ausgebildeten Stimme ihm fremd und artifiziell vorkommt. Auf diese Beobachtung, die, glaube ich, für Literatur analog gilt, bezog ich mich.

      Im übrigen ist Benjamins Satz eine rhetorische Volte von derselben logischen Struktur wie Wer einem Masochisten Gutes tun will, der fügt ihm keinen Schmerz zu – weil er erst d a n n nämlich leide und ergo zur eigentlichen Lusterfüllung finde.
      Außerdem ist der Satz tautologisch, da Tradition gerade darin b e s t e h t, Kontinuitäten immer wieder herzustellen. Dem wäre nur dann anders, gäbe es etwas Eigentliches, das sich von sich aus, quasi “natur”bewegt fortführt. (Ich setze im Umfeld Benjamins “Natur” aus bekannten Gründen in Anführungszeichen.)

    2. Tradierter Schein… Zunächst danke ich für die ausführliche und anregende Antwort!
      Was das genannte Beispiel der U-Musik angeht, sehe ich überhaupt keinerlei Differenz. Wogegen ich allerdings – allein von meinem Nickname her – empfindlich reagieren muss, ist die Anrüchigkeit, in welche der ‘Schein’ mir zu leicht gerät.
      Der ‘Schein’ suggeriert – völlig zu Recht im Beispiel der U-Musik – Blendung, Verblendung und damit Täuschung und Truggebilde schlechthin zu sein.
      Damit ist aber doch zunächst nicht mehr zum Ausdruck gebracht, als dass die Täuschung das ‘Eigentliche’ dieser ‘Ausdrucksform’ ist:
      Das Wesen des Scheins ist der Schein selbst!
      Mit anderen Worten: Der tautologische Kern des Benjaminzitats, auf den Sie hinweisen, i s t sein Wesen, was in der konsequenten Fortführung hieße, dass es zum Wesen der Tradition gehört, Tautologien zu tradieren.
      Ich lese ‘Schein’ als ‘Erscheinung’ und folge ganz dem folgenden(!)Zitat:

      “Die ‘Erscheinung’ beinhaltet, dass es etwas hinter ihr gibt, etwas, das sich durch sie hindurch manifestiert.
      Sie verheimlicht eine Wahrheit in dem Moment, in dem sie sie erahnen lässt; gleichzeitig verbirgt und enthüllt sie das Wesen hinter ihrem Vorhang.
      Was aber versteckt sich hinter der Erscheinung?
      Es ist die Tatsache, dass es nichts zu verbergen gibt.
      Was verborgen ist, ist der Akt des Verbergens, welcher nichts verbirgt. Was man verstecken muss, ist, dass das Übersinnliche – das Wesen, welches man zu bemerken glaubte – nichts anderes als die Erscheinung als Erscheinung ist.“

      (Zizek, Zlavoji: Der Erhabendste aller Hysteriker.
      Lacans Rückkehr zu Hegel. Wien/Berlin 1991, S.118f.
      )

    3. @walhalladada. Die Anrüchigkeit des Scheins. Ist von derselben Berechtigung, die uns, >>>> wie Sabine Vogel das tut, den schönen Menschen mit Vorbehalt ansehen läßt – darin wittert der Verdacht, man könne nicht dazugehören, ja ausgeschlossen sein. Das stimmt auch meistens. Das Schöne, wie der Schein, wird deshalb aus sozialen Gründen (und aus moralischen, was beides nicht immer identisch ist) abgelehnt und auf etwas Eigentliches, ein Wesen, rekurriert, von dem aber keiner genau sagen kann, was es ist und ob es das überhaupt gibt. Es ist insofern eine dem Schein entgegengestemmte Behauptung. Ich gehe insofern mit Ihnen konform, „den Schein“ vor vermeintlichen Wahrheiten in Schutz nehmen zu wollen. Andererseits ist der Erscheinung des Scheins eine Produktion von Schein an die Seite getreten, die sich seiner ökonomisch und politisch bedienen will, ohne daß man ihm, wie bei Schönheit der Fall, ausgeliefert wäre. Lassen Sie mich das der Einfachheit halber den technologischen Schein nennen, der ein industrieller und ungefähr das ist, was wir unter dem Begriff des Verblendungszusammenhangs, der ein gemachter ist, verstehen. Hiergegen richtete sich meine Invektive.
      Tatsächlich f u ß t Schein aber auf Erscheinung – nämlich „Erleuchtung“ – und hat insofern etwas tief Religiöses. Das spielt Zizek an (wie zugleich auf Sais), auch wenn ich seinen Satz „Es ist die Tatsache, dass es nichts zu verbergen gibt“ in ihrer unbegründeten Normativität absurd finde. Ein „vielleicht“ schüfe hier schon einmal Abhilfe. Ob nämlich „das Übersinnliche nichts anderes ist als die Erscheinung a l s Erscheinung“, ist nicht ausgemacht. Um Zizek zu „drehen“: Sein eigener Satz erscheint als wahr (gibt vor, wahr zu sein) und fällt in sich zusammen, wendet man auf ihn seine Aussage an.
      Die Anrüchigkeit gilt übrigens auch für die von Ihnen als Beispiel gegebene Blendung. Zu vergessen ist offenbar, daß sich Seher oft dadurch auszeichneten, daß sie blind waren. Das ist ein ganz ähnlicher, mit Schein verbundener Zusammenhang. Noch die zum krudesten Positivismus führte, die Aufklärung, trägt in ihrem eigenen Begriff die mythische Dialektik des Lichtes weiter. Die industrielle Produktion von Schein aber – bewußt gemachte Verblendung – denunziert ihn allein schon deshalb, weil an ihrem Beginn das Bedürfnis steht, zu dessen Befriedigung nun Schein-Artikel hergestellt werden; nicht etwa sind – wie es ihrem Wesen entspricht – Schein und Erscheinung vorgängig – und sie sind es (vorgängig) wohl allein deshalb nicht, weil sie G e f a h r e n bergen. Als Semele den geliebten Jupiter ansehen möchte und sich seiner Erscheinung aussetzt, verbrennt sie. Insofern ist an der industriellen Herstellung von Schein nach den Gesetzen des demokratischen Kapitalismus etwas Humanes: Erfüllung eines Bedürfnisses, verbunden damit, daß man vor seinen Folgen bewahrt wird… bewahrt zu werden… ecco!: s c h e i n t.

      [Poetologie.]
    4. Die tragenden Rolle des ‘Scheins’ im allgemeinen Verblendungszusammenhang haben Sie mit treffenden Worten benannt.
      Und in der Tat – es scheint so – als reagiere der ‘technologische Schein’ als produzierter auf die dem ‘schönen Schein’ inhärente Gefahr:
      von ihm ausgeschlossen zu sein.
      Der damit einhergehende Kontrollverlust wird nicht einfach hingenommen: Dem ‘Schönen’ – charakterisiert als ‘unmittelbares Gewordensein’ – stemmt sich das ‘Techno-Schöne’, als ‘mittelbar Gemachtes’ mit MACHT entgegen!
      Auf den engen Zusammenhang zwischen dem ‘Schönen’ und dem ‘Tod’ hat die Kunst in ihren exponierten Ausdrucksformen von jeher verwiesen:
      “Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang…“
      lässt Rilke seine ‘Duineser Elegien’ beginnen…

      >>Platen dichtet:

      “Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
      Ist dem Tode schon anheimgegeben,
      Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
      Und doch wird er vor dem Tode beben,
      Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!

      Beiden Beispielen gemeinsam ist der Verweis auf die Unerträglichkeit des ‘Schönen’, welche eben in dessen Natürlichkeit und Unmittelbarkeit seinen Grund findet. (Als solches scheint das ‘Schöne’ weniger LUST, als vielmehr UN-LUST zu evozieren..!)
      Genau aber dieser Unlust stemmt sich der ‘technologische Schein’ entgegen. Er überstrahlt nicht von ungefähr auch den menschlichen Tod, der eben in seinem unmittelbaren natürlichen ‘Gewordensein’ mit dem ‘Schönen’ korrespondiert. Im Begräbnisritual legt der Mensch gleichsam letzte Hand an, um dem Tod als ‘natürlichem Gewordensein’ wenigsten ein symbolisches Schnippchen zu schlagen:
      Das Ritual suggeriert den Tod als Resultat einer ‘freien Entscheidung’:
      Indem der Mensch diesem ‘reinen Werden zum Tod’ das Seine hinzufügt, verwandelt er das an sich unbegreifliche ‘Gewordensein zum Tod’ in ein begreiflich ‘Gemachtes’…..

      Lieber Herr Herbst, ich wollte hier gar kein neues ‘Fass’ aufmachen,
      aber was kann ich dafür, wenn Sie mir zu denken geben…?
      Sie haben – wie wir alle wissen – wichtigere Dinge zu tun, als sich mit ‘Scheinproblemen’ zu beschäftigen.
      Die Aufmerksamkeit, die Sie trotzdem dem ‘Schein’ gewidmet haben, erkenne ich jedenfalls weniger als ein Auseinander-, denn als ein Zusammensetzen.
      Auch dafür danke ich!

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