Paul Reichenbachs Dienstag, der 21. August 2007. Das Herz.

Einmal hatte ich einen Traum gehabt, sagte er,
in dem ich in einen offenen Schoß hineingezogen
worden war. Hineingesaugt, mit
den Füßen voran.
Mit Haut und Haar, wie man sagt.
Nur der Kopf war noch draußen.
….
Sie lag unter mir wie eine Tote, schrieb er,
mit offenem Mund und geschlossenen Augen.
Sie erwartete meinen Kuß.
>>>Jürg Amann, Pornographische Novelle, Verlag Tisch 7 Köln

Der nahe Tod ist ihr ins Herz gezeichnet, dachte er, als er am Sonntag in der Finissage im Klingspor-Museum sie zufällig traf. Vor 20 Jahren, kurz bevor er wieder zu seiner Familie aufs Land zog, hatte er sie kennen gelernt. Sie schien ihm damals allen Ereignissen gegenüber, es konnte passieren was wollte, gleich ob es sich um die Katastrophe von Tschernobyl oder um einen wilden Streik von Druckern in der Nachbarstadt handelte, stets heiter und gelassen. Souverän. Im Gegensatz zu manchen Mitstreiterinnen, mit denen sie in Frauengruppen verbandelt war, machte sie ihrer Empörung über derartige Vorkommnisse und soziale Missstände nicht mit verkniffenem Mund, sondern mit einem hellen Gelächter Luft. Sie war nicht das, was man landläufig eine Schönheit nennt.
Den unproportionierten Körper, die Beine, im Verhältnis zum zu lang geratenen Leib waren viel zu kurz, verbarg sie in langen leichten, bunten, pastellfarbenen Kleidern, die ihr bis zu den Knöcheln reichten. Und wer genau hinsah konnte in ihren braunen Augen jene winzigen Flämmchen entdecken, die Eros wohl schon bei ihrer Geburt entzündet gehabt haben musste. Die kleinen Funken in ihren Pupillen leuchteten noch genau so wie früher, als er sie umarmte. Und wie in jedem Wiedersehen, das Freude auslöst, mischte sich auch hier ein Schmerz zu, der den Verlust, das Manko, seines Lebens an sein Hirn mit einem heftigen, kurzen Stich meldete. Sie sah ihn prüfend an und er wurde den Eindruck nicht los, vor ihr nicht bestehen zu können. Schon als er noch in O. lebte fühlte er, es ist wie bereits gesagt Jahrzehnte her, wenn sie sich im Cafe, im Buchladen oder bei Versammlungen begegneten, diesen Blick als unausgesprochene Frage, ob er denn mit sich im Einklang sei. Im Einklang mit sich sein, das bedeutete für sie, den eigenen Anspruch an das Leben nie relativieren zu wollen. Egal welche äußeren Zwänge nach einem scheinbar vernünftigen Opportunismus verlangten.
Im Gespräch, sie muss jetzt fast 70 sein, beim Gang durch die Ausstellung hielt sie manchmal unvermittelt inne, lachte ihn an und suchte einen Stuhl zum Ausruhen. Du bist krank?, fragte er jetzt direkt, um seiner anfänglichen Vermutung, die, so hoffte er grundlos sein würde, den Boden zu entziehen.
Ja, sagte sie. Sehr. Es ist das Herz.
Und fügte dann hinzu: Erinnerst du dich noch, als ich in deinem Laden Carson Mc Cullers „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ kaufte ?

Heute abend gehe ich mit ihr, sie liebt die kämpferischen Lieder von Hans Eisler, in die >>>Gutleutstraße 15.

ARBEIT
KONZERT | 21.08.2007 | 21.00 Uhr | Eintritt frei
Brecht/Eisler | Volkslieder | Arbeiterlieder mit Oliver Augst, Stimme | Marcel Daemgen, Keyboards, Sampling, Elektronik und Bernhard Reiss, Drums.

3 thoughts on “Paul Reichenbachs Dienstag, der 21. August 2007. Das Herz.

  1. Ich hab mir erlaubt, diesen wunderbaren Text meinen innigsten Freunden weiterzuleiten. Vor allem der Satz mit dem Einklang hat es mir angetan; er stieß auch auf ähnliche Reaktionen bei den anderen.

    1. Danke. Liebe ConAlma, es sind seltene Momente , wo ich sagen kann: Ich bin im Einklang mit mir. Dies hat meine Bekannte sehr genau erkannt. Leider kam sie, sie fühlte sich nicht wohl, gestern nicht in das Konzert in dem nicht nur Eisler vorgetragen wurde. So hat die Gruppe neben Hans Eisler noch Schubert, Wagner (Wesendoncklieder) und Mahler ( Ich bin der Welt abhanden kommen) in ihrem Repertoire. Alles auf eine Weise arrangiert, die PC, Drums, Megaphon, und Mikrophon mitverwandte. Damit zogen sie allzu Atbekanntes ein neues Klangkleid an, das mich in seinen Farben sehr begeistert hat.

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