Arbeitsjournal. Donnerstag, der 30. August 2007.

5.09 Uhr:
[Arbeitswohnung, latte macchiato.]
Genau um 4.30 Uhr hoch, nachdem ich gestern bereits um elf so müde war, daß ich schlafenging – dabei war mir nach einem Film zumute, einer Ablenkung könnte man sagen, die auch eine Art so empfundener „Belohnung“, eines vermeintlichen Abschaltens nämlich gewesen wäre. Solch Abschalten ist aber eine Täuschung. Der Körper will etwas anderes, will schlafen, wie meine Erfahrung mit dem landläufigen Abschalten ja insgesamt eher die ist, daß es sich um einen Willen zur Verdrängung handelt, der, gibt man ihm nach, letztlich besonders entkräftet. Das ist bei so gut wie allen Vergnügungen so, die nicht Vergnügung, sondern Entertainment sind. Wahrscheinlich ging es in meinem Fall gestern um die Vaterelegie, die viel Kraft kostet, in der ich nun aber so sehr drin bin – auch wenn ich mich zeilenweise und also eher mühsam voranschlage -, daß ich wieder mal anderes, auch Wichtiges, weil Lebensorganisatorisches liegen lasse. Aber ich gebe dieser Vater-Klage, bei der ganz genau darauf geachtet werden muß, daß sie nicht den Ton einer Anklage bekommt, sondern immer n a h e am Vater bleibt, liebend nahe – also ich gebe ihr derzeit über Erinnerung und Imaginationskraft konkretes Fleisch; sie wird jetzt sinnlich.
Dazu kam mir auf dem kleinen Radweg vom Terrarium nach hier die Frage in den Kopf, weshalb Menschen körperliche Vorgänge, etwa sexuelle, immer geistig aufedeln müssen – reicht es denn nicht, daß sie sie mit Bewußtsein vollziehen und sich eben d a r i n vom Tier, das ihnen ‘nur’ folgt, (sehr wahrscheinlich) unterscheiden? Nimmt eine solche Vergeistigung (der Akt – sofern ihn diese Vergeistigung nicht insgesamt als „schmutzig“ ablehnt, bzw. in den Religionen ihn auf ein Zweckmittel reduziert – meine eigentlich etwas anderes, er stehe für etwas) dem Genuß nicht die Kraft, die er hat, ja vergällt ihn? – Ich antwortete nicht, sondern fragte nur und frage, leicht, nach innen, noch immer. Das hat auch mit >>>> meinem Gedanken von gestern zu tun, der eine Beobachtung ist, eine Auffälligkeit, die freilich nicht in j e d e m Fall stimmt, aber doch in vielen Fällen. Ich hatte darüber noch weiter nachgedacht, weil ich einen Unterschied spüre zwischen sogenannter Spiritualität, die sich esoterisch geriert, und einer sogenannt tiefen Religiosität; allerdings gibt es Bereiche, Teilmengen, in denen sich beide „gläubigen“ Ausrichtungen überdecken. Die Lektüre der Schriften Peter Bamms, der in seinem Christentum ganz selbstverständlich verwurzelt zu sein schien, tut da ein übrigens – wie er die frühen christlichen Propheten, missionarische Apostel vom Schlage und Range Pauli, auf die Agoren projeziert, das hat schon Aura und leuchtet angenehm humanistisch: wärmend, möcht ich das nennen. Zugleich umarmt er dabei den Islam und selbstverständlich den jüdischen Glauben als Initiator des Monotheismus; er trennt nicht. Diese Schriften – „Frühe Stätten der Christenheit“ sowie „An den Küsten des Lichts“ – beharren, ziemlich nah noch an der Erfahrung des Hitlerfaschismus, auf einem humanistischen Abendland und auf den Quellen, die es als Kulturerscheinung geschaffen hat; sie sind, so gesehen, Hymnen. Ich schaue derzeit immer wieder hinein, ohne daß dies tatsächlich meine polytheistischen Empfindungen, das sind sie wohl, angreifen würde. Meine Erfahrung mit meinem Geist ist vielmehr die, daß er mehrere einander logisch ausschließende Glaubenssysteme geradezu sanft nebeneinanderzubetten vermag und sie in Bildern zusammenschließt, die große Schönheit haben. Meinem Geist (als wäre er etwas anderes, als Ich es bin) wird jedes Dogma zu einer Art Kunst-These, auf die man sich ebenso einlassen kann wie darauf, daß sich Cherubino auf der Bühne vor dem Grafen versteckt, zwar jedem sichtbar, jedem im Publikum, und auch dem Grafen, aber man ist übereingekommen, ihn für den Grafen n i c h t sichtbar sein zu lassen – und daraus, aus der eigentlichen Irrationalität – ergeben sich Schönheit und Witz des Geschehens. Den Nörgler denunziert, daß er sich n i c h t darauf einläßt – und damit sich selbst um eine glückhafte Erfahrung beraubt.

Das eben so in den Morgen gesprochen. Und nun weitergeschrieben an der Zwölften Elegie.

D a s noch.
Ich finde von UF eine lange Email; es schwärmt von >>>>> Michael Köhlmeiers „Abendland“; schon des Titels wegen sollte auch ich das Buch lesen, findet UF, finde ich. Dann schwärmt er von Kraussers Gedichten und freut sich über Thomas Glavinics, den ich >>>> vor einem Jahr in Innsbruck kennenlernte und mit dem ich gerne an der Bar abhing, >>>> Das bin doch ich und kommt zu der zuversichtlichen Feststellung

nein, ich find es einfach schön, daß es jetzt mal einen richtigen ruck gibt: einen ganzen sack voll guter bücher. nicht so eine seiche wie im frühjahr. und du bist mit XXXXX dabei und giwi* auch (>>>> tammen macht was im dezemberheft von ihm): auf einmal gibt es auf dem so intrigant-korrupten buchmarkt einen haufen lesenswerter qualität. es ist wie ein orchester. noch stimmt es – bin gespannt, wie es dann klingt.

Mein Problem ist, ich k a n n das nicht alles lesen, auch, wenn ich wollte (und ich möchte); aber die anderen Lektüren, die direkt zu meiner Arbeit gehören, gehen unbedingt vor – so werkelt man denn nebeneinander her, ahnt zwar Berührungen, läßt sie auch zu, wenn man ohnedies nahe ist, aber weiß doch um die Begrenztheit der Lebenszeit. Dazu kommt, daß dieses Leben eben nicht nur aus Literatur besteht, sondern, neben der Familie und den Freunden, auch aus der Oper, aus der Sinfonik, der Neuen Musik, aus Gemälden und Spielfilmen und aus der Wissenschaft – und man gibt sich von allem, je nach Leidenschaft, die Portionen, ohne daß es da ein Primat gäbe oder geben dürfte. Ich will allerdings nicht verhehlen, daß bei der Auswahl meiner Lektüren auch Verletzungen eine verhindernde Rolle spielen; wenn etwa >>>> Germar Grimsen, von dessen Roman UF extrem begeistert ist, bei Eichborn Berlin erscheint und von demselben Lektor, Wolfgang Hörner, betreut ist, der mich mehr mehr oder als minder hämisch als schlechten Autor behandelt, so wirkt das durchaus auf die Bereitschaft zurück, sich auf seine Favoriten einzulassen. Das ist denen gegenüber ungerecht, ich weiß; aber dennoch wären die Lektüren immer mit einem miesen Gefühl verbunden – so, wie ich nach >>>> meiner Erfahrung mit Günter Grass beim Döblinpreis zwar weiterhin wissen und auch vertreten werde, daß Grass ein großer Autor ist; lesen aber werde ich mit Sicherheit nichts mehr von ihm; zu tief sitzt die Erfahrung des Verrats, den er verübt. Es ist, als umgäbe ein großes Bild ein permanenter schlechter Geruch: nämlich der aus sozialdemokratisch-machtbewußtem Kalkül erschlagenen, scheinverbuddelten und sich nun zersetzenden Leichen. –

22.29 Uhr:
[Am Terrarium. Jarrett, Milano 1997, La Scala.]
Man darf’s nicht laut sagen, aber ich hatte heute w i e d er einen Laptop-Crash; um mich jetzt nicht völlig lächerlich zu machen, sag ich nicht, weshalb. Jedenfalls hab ich format c: gespielt, alles neu installiert und sitz jetzt dabei, meinen mobilen Netzzugang wieder zum Laufen zu bekommen. Daten gingen, außer ein paar ersetzbaren Fonts, keine verloren. Erstaunlicherweise kam ich bei alledem Chaos in der Zwölften Elegie eine ganze Seite weiter, und dann… ja, dann entstand noch >>>> das. An sich hatte ich etwas anderes ausdrücken wollen, aber dahin b r a c h t e mich der Ton… es war kein Ausweichen. Jetzt merke ich die formalen Schwächen, die das Gedicht hat, zugleich merke ich aber auch, daß genau sie es sind, die es so wirken lassen… auf m i c h wirkt es; ob auf andere, weiß ich noch nicht. Aber diese grammatische Engführung des Vaters mit dem verunglückten Bruder und schließlich dem, der daran denkt, und mit Jarrett… das ging mir und geht mir immer noch nah – und gewollt war d a s nicht.
Egal.
Sitze noch etwas an der Installationsroutine und höre weiter Jarrett. Bisweilen geh ich hinunter hinaus in den Nieselregen und rauche eine Zigarette. Hier auf dem Tisch steht ein feiner Riesling. Und von >>>> Dielmann kamen eben noch ein paar Lektoratsvorschläge; wie immer, wenn er von etwas angefaßt ist, wird er mikroskopisch genau.

22.46 Uhr:
Nicht zu fassen. Ich hör diese Musik und weine.
So war das heute nachmittag s c h o n mal… nachdem ich dieses Gedicht geschrieben hatte. Das lagert sich der Zwölften Elegie nun alles so an, und alles das geht um den Vater.

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