Arbeitsjournal. Sonntag, der 17. September 2006. Hall in Tirol. Sprachsalz.

10.03 Uhr:
[Parkhotel Hall in Tirol.
Auf dem großen Festabend gestern, las ich die Liebesgedichte, nervös wie bei den Elegien. Dann setz ich mich zurück an meinen Platz zu >>>> José F.A. Oliver, Renate Giacomuzzi setzt sich dazu. „Ich mußte aufpassen“, sagte sie, „mich nicht von dieser Schönheit verführen zu lassen.“ In dem Moment tritt jemand vom Büchertisch herbei und fragt, ob ich nicht eben mal mitkommen könne, da stünden lauter junge Frauen und suchten nach meinen Gedichten. „Die sind noch nicht erschienen“, sag ich. „Ich weiß“, sagt er, „aber das sollten Sie denen vielleicht erklären.“ Ich hab aber keine Lust, zumal Renate einflicht: „Siehst du, du verführst mit den Gedichten, mit dieser ungebrochenen Schönheit. Du mußt sie brechen, das ist sonst so die Linie D’Annunzio-Rilke-Benn, damit haben wir uns politisch genug herumschlagen müssen. Diese Linie solltest du nicht ungebrochen fortführen.“ Ich verstehe, was sie meint, mag mich aber nicht drauf einlassen, auch wenn sie zusätzlich noch Durs Grünbein einfügt. „Der schriebe aber nie ein Gedicht“, erwider ich, „in dem er sich derart schutzlos macht. Ich aber tu das, und was es hält, ist die Form.“
Oliver zu den Gedichten: „Sie sind wunderschön, ja. Weil man merkt, da ist wer durch hundert Leben gegangen.“ Er hat einen ganz anderen hörenden Zugiff darauf; aber da wirkt auch ein anderes Kulturverständnis, er entstammt dem spanisch-maurischen, zudem jüdischen, wie er gestern erzählte. Der Verdacht gegen Schönheit ist dort nicht auf diese Weise vorhanden wie im deutschsprachigen Kulturraum mit der nachwirkenden Erfahrung – auch mittelbaren Erfahrung – der nationalsozialistischen, falschen Verklärungs-Verblendung und ihren Verführungsversuchen. Doch darf man sich davon nehmen lassen, daß etwas schön s e i? Letztlich wird es, wie bei vielen meiner Arbeiten, darum gehen, ob dieses Pathos, das die Texte vertreten, akzeptiert wird. Also: Wie rette ich das schöne Pathos, die Bewunderung, Staunen und unvoreingenommene Hingabe in die Literatur zurück? Interessanterweise fiel mir bei dieser Diskussion U.’s Bemerkung ein, die Bamberger Elegien seien mainstream; die am Büchertisch schauenden ‚Fans’ sprechen dafür.
Zu den Elegien übrigens noch: Ich habe gestern ja notiert, ich hätte den Eindruck gehabt, die Lesung der Elegien sei danebengegangen. Lewitscharoff und Aerni wollen denn auch noch ein „Gedichtrupfungsgespräch“ mit mir führen, und sie taten’s, nachts an der Bar. Was herauskam, überraschte mich völlig. „Die Texte sind wunderschön oft, der Rhythmus trägt i m m e r, aber sie sind zu voll, zu gestopft. Du mußt den Lesern mehr Raum geben, mehr Zeit lassen, sie müssen die Chance haben, die Bilder auch mit- und nachzuerleben.“ Mit derartigem, das ich übrigens als Einwand auch gegen viele meiner Bücher kenne, also in der Prosa, hatte ich gar nicht gerechnet, vor allem nicht mit dem Zuspruch, den diese Kritik letztlich bedeutet. „Man hat den Eindruck, da entsteht etwas ganz-Großes“, sagt >>>> Sibylle Lewitscharoff, „aber man hat ebenfalls den Eindruck, das kann noch völlig schiefgehen. Spürten wir das nicht, wir würden doch gar nichts sagen. Man stillschweigt, wenn etwas ohne Hoffnung ist.“ „Es wird entweder Mist oder sehr große Literatur“, ergänzt >>>> Thomas Glavinic. Dazwischen gibt’s nichts.“ Und Renate Giacomuzzi, der ich vorher von meinem Unbehagen wegen der Lesung gesprochen hatte, erzählte: „Nein, ich habe das Gegenteil gehört. Besonders von den jungen Leuten, den Studenten. Die waren völlig begeistert.“
Jedenfalls hingen wir bis vier Uhr in der Früh an der Bar ab, politisch debattierend, ästhetisch debattierend, über Literatur debattierend, und ganz zum Schluß sprachen, alle anderen waren weg, nur noch Glavinic und ich, beide sind wir Väter, und beide spürten wir: ein Schriftsteller, der Kinder hat, sieht prinzipiell anders auf Welt.
Um halb acht stand ich vorhin dann auf. Wieder wird mit Arbeit nichts sein, und wieder ist das ganz in der Ordnung. In einer knappen dreiviertel Stunde werde ich bereits auf dem Podium sitzen aus Anlaß des zweiten Teils einer öffentlichen Diskussion „Zur Zukunft des Buches“. Es wird diesmal, Leser, um S i e gehen, unter anderem um Sie, nämlich um Leser Literarischer Weblogs. Und darum, was eine solche Entwicklung für das ‚klassische’ Buch bedeuten könne.
Haben Sie einen herrlichen Tag. Über meine eigentliche literarische Entdeckung >>>> dieses Festivals möchte ich später schreiben, vielleicht auch erst morgen; das Buch sei aber bereits genannt: >>>> „Hungertuch“ von Martin Stadler. Hinreißend.

14.12 Uhr:
Tolle, absolut tolle Lesung von Sibylle Lewitscharoff aus >>>> „Consummatus“. Diese Festivals haben einen absoluten Nachteil: Jetzt muß man d o c h Bücher kaufen, was man ja eigentlich durch die Lesungsbesuche zu vermeiden trachtet: man hört, aha, d a s machen die Kollegen, zuckt die Schultern und begibt sich wieder an sein eigenes Werk. Und dann sowas. Erst Stadler, nun Lewitscharoff. Grrrrr.

1 thought on “Arbeitsjournal. Sonntag, der 17. September 2006. Hall in Tirol. Sprachsalz.

  1. Lieber Nikolai Alban
    Unser Wiedersehen in Frankfurt hat mich gefreut. Werde mal einen Versand im Auftrag von Arco machen für Lesungsangebote.
    Weiterhin viel Erfolg und herzliche Grüße
    Urs

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