Alles in Maßen, nach menschlichem Maß. Georg Philipp Telemanns „Der geduldige Sokrates“ an der Deutschen Staatsoper Unter den Linden.

Dies ist >>>> eine s e h r gute Inszenierung. Wenn der kräftig bejubelte Abend aber letztlich doch nicht völlig befriedigt, so liegt das an dem Stück selbst; es liegt an den feinen Widersprüchen, in die auch ein erstklassiges Regieteam eingesponnen wird (Nigel Lowery und Amir Hosseinpur unter sicherlich aktiver Mitwirkung René Jacobs, der die musikalische Leitung hat), das dem Schwank über seinen inhärenten Spaßcharacter hinaus moralische Aussagekraft verleihen möchte. Es liegt aber eben auch an der Komposition, die immer perfekt, von einem wunderbaren Routinier, tongesetzt ist, aber nur in ganz seltenen Fällen Transzendenz zu erzeugen vermag – etwa bei der Verzichts- und Liebesarie Rodisettes im Dritten Akt. Was auch der geradezu engelhaften Klarheit (und Kraft) Sunhae Ims gedankt ist, die dem mädchenhaften, erst scheinbar vergeblichen Schwärmen durchaus eine tragische Note verleiht. Aber das sind Momente. Im ganzen vertritt das Stück eine quasi bürgerliche Haltung der Mäßigung und komischen Innenverwicklung des ‘normalen’ Familienlebens, die um so altbackener wirkt, je stärker das modernisierende Element der Regie und des Bühnenbildes sich vorschiebt. Genau diese Mäßigung hat auch die Musik. Es gibt eigentlich keinen Aufruhr, sondern immer nur seine Geste, und selbst, wo man sich aus Liebespein umbringen zu wollen vorgibt, steht letzten Endes die allzu wohlfeile Bereitschaft sich einzufügen da und sein Schicksal… nein, zu groß, der Begriff… sondern: sein wie’s sich halt begibt anzunehmen. Man könnte den Geduldigen Sokrates wie ein lustiges Lehrstück für das ansehen, was eine auf Anständigkeit gemäßigte Lebenshaltung gerade auch in der Demokratie dem Einzelnen abfordern möchte: sich bitte korrekt zu benehmen.
Es ist diese Haltung, die diese Musik durchzieht, diese musikalische Korrektheit, die zwar zu mancher anrührenden, oft auch nur rührenden Arie führt; ein kathartisches Element bleibt ihr dagegen versagt. Denn anders als im späten Verdi werden die Verwicklungen auch nicht durch ein schallendes, zumal radikal fugiertes Lachen gelöst, sondern vermittels der zwar gütigen, doch recht trotteligen Philosophie des hier vorgeführten Sokrates’. Des angesichts man ja doch verstehen kann, daß sich seine beiden Frauen die erotisch restlos verstaubte Hausatmosphäre mit Gezänk ein wenig aufwürzen müssen. Was bleibt ihnen denn bei einem derart testosteronlosen Ehgespons übrig?
Freilich ist die Grundkondition der Erzählung nicht sehr bürgerlich. Ein (historisch imaginäres) Dekret hat zwecks Vermehrung der Athener Bevölkerung verfügt, daß jeder Mann zwei Frauen ehelichen müsse. So kam Sokrates nicht nur zu Xanthippe, sondern auch zu Amitta; Inga Kalna und Kristina Hansen, die ihre Typen – wie alle Beteiligten – mit deutlicher Lust an der Klamotte spielen; was übrigens bei ebenfalls keinem der Beteiligten an Sangesleistung Abbruch tut, sondern sie eher befeuert – soweit eben von Feuer bei einem solchen Stück die Rede sein kann. Diese Grundkondition – keine condition humaine, sondern eine der politischen Sozialmoral – wird in Lowery/Hosseinpours Inszenierung durch die Modernisierung verstärkt. Zugleich wirkt sie, etwa vermittels fantastisch durchchoereografierter Spiele der Hände, die eine völlig andere und eigentlich d i e interessante Perspektive der Inszenierung öffnen, dem Schwank entgegen. Zum anderen ist es die große Klasse dieser Inszenierung wie ihre Fragwürdigkeit zugleich, daß die gespiegelte Einbauküche, die, für jede Ehefrau eine, das hintere Bühnenbild vor Augen führt, fulminant zu dem Stück paßt, ebenso wie, daß, wenn Antippo (geschmeidiger Alto: Matthias Rexroht), um den niedergesunkenen Edronica und Rodisette (prima, daß die Regie sie als Zwillinge anlegt) Wasser zur Belebung zu bringen, zwar singt, er eile nun zur Quelle, aber zum Kühlschrank geht und ein Fläschchen Pellegrino da rausholt. Das sind in ihrer Komik starke Momente der Gegenwärtigung, aber wenn man solche Witze abklopft – sie sind immer gelungen -, fragt man sich doch, was hier eigentlich mitgeteilt werden soll und ob die Regisseure nicht vielleicht sogar – recht haben.
Denn die – einem Schwank adäquate – Typisierung geht über einen Verismo hinaus, der immer Einzelgeschichten erzählt – und wird stellvertretend. Was ja ein Element barocker Kunst i s t. Wenn man zumal >>>> Franz R. Stukes Einschätzung folgt und in der gegenwärtigen Oper die starke Dynamik findet, sich zu entstauben und wieder gesellschaftspolitische Aufgaben wahrzunehmen, dann muß man über das hier transportierte Frauenbild, Weibchen und/oder Keife, doch einigermaßen nachdenken, und über die Darstellung des Sokrates’ nun sowieso.
Die brachte die erste starke Überraschung des Abends, aber eine, die versandet. Vorgestellt wird Sokrates (Marcos Fink) mit riesigem Schädel – was für seine Über-Intelligenz stehen mag, aber doch eher an einen Wasserkopf, an mongoloide Erkrankung denken läßt und durchweg Clowneskes hat. Außerdem ist er pantoffelig als jemand geführt, der eigentlich nur seine Bücher lesen will und auch immer wieder dahin flüchten möchte, aber eben nicht in Ruhe gelassen wird, weder vom Frauengezänk, noch von dem stromlinienförmig-kapitalistisch lebemännigen Vater der beiden heftig um die Prinzessinnen pubertierenden Prinzen. Reichte man dem Philosophen einen Pfefferminztee, eine Decke für die Schenkel und ein gutes Buch, er wäre mit seinem Antiquariat völlig zufrieden. Die Überraschung stellt sich aber ein, als der Mann zu singen – und wie! – beginnt. Doch Finks tiefer und schöner Baß verspricht sehr viel mehr, als das Stück einlösen kann, so daß man ständig das Gefühl hat, es täusche hier etwas etwas vor: entweder die Stimme oder der Klamotten-Clown. Das löst die Inszenierung nicht auf. Kann sie bei dieser Vorlage auch nicht. Und alle brillanten Detailversessenheiten (hinter den aufs Meer schauenden Küchenfenstern fahren sogar Dampfer der Sehnsucht vorüber), großartig auch die Szene, in der es regnet – wie, verrate ich nicht -, laufen letztlich ins Leere – entweder, weil sie das sollen und der erwachsenen Gegenwart ein ausgesprochen übles Emanzipationsattest ausgestellt wird, oder, weil eben Spaß und Witz im Vordergrund standen, der Schwank jedoch wegen seiner Modernisierungs- und der metaphorischen Anteile nicht mehr nur Schwank ist. Jeder Zuschauer möge selbst entscheiden, welcher Bewegungsanstoß in dieses Dilemma geführt hat.

Man kann in aller Ambivalenz eines solchen Satzes sagen: Das war ein gelungener Abend. Es ist eine feine, ideensprudelnde, vergnügliche Inszenierung mit vergnüglicher, mitunter melancholischer Musik, die immer im Rahmen des auch kompositorisch Anständigen bleibt. Fehler sind nicht auszumachen, weder bei Lowery und Hosseinpour, noch bei Telemann; es sei denn, man empfände in einer Arie der Leidenschaft die Parallelführung von Stimme und barocker Blockflöte als einen Fehler: daß Leidenschaft so mottetig wird. Hier steht auf der anderen Seite, und zwar entschieden: – Händel. (Daß der, wie René Jacobs im Programmbuch ein wenig bedauert, heute erheblich populärer sei als Telemann, muß nicht für Telemann sprechen. Und daß dessen wie auch Reinhard Kaisers Opern ahnen ließen, wie Bachs Opern geklungen hätte, hätte er denn Lust gehabt, welche zu schreiben… je nun, darauf läßt sich mit demselben Recht erwidern, es habe vielleicht der große Bach diese Lust mit guten Gründen nicht gehabt.)

Mit Jacobs, und in gleich makelloser Qualität, aber das muß keiner mehr eigens erwähnen, musizierte die Akademie für Alte Musik Berlin. Wer sich einen netten Abend machen möchte, gehe hin. Er wird die ganzen viereinhalb Stunden lang bestens unterhalten werden; da ist nicht ein einziger dramaturgischer Durchhänger. Doch fängt man hinterher, vielleicht, zu denken an. Denn Rettung, lieber Sokrates, ist auch im Ohrensessel nicht.

[copyright der Fotografien:
Monika Rittershaus für die Staatsoper Unter den Linden, Berlin.]



Geschrieben für das >>>> Opernnetz.

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