Arbeitsjournal. Mittwoch, der 7. November 2007.

5.28 Uhr:
[Arbeitswohnung. Korngold, Violanthe (ff).]
Die Nacht war lang, diesmal nicht babyhalber (der Zwillingsbub schlief in meinem Arm, bis der Mobilchen-Wecker lärmte, nahezu durch), sondern weil zu meiner Überraschung, als ich gestern sowas gegen 22 Uhr >>>> in der Bar aufkreuzte, nicht nur bereits der Profi dasaß – Pünktlichkeit ist seine Sache so wenig, daß man von einer Verspätungs-Leidenschaft, wenn nicht einem Verspätungs-Zwang sprechen muß; nein, Daniello und Deters saßen mit ihm zusammen da und schienen auch schon einiges getrunken zu haben. Daniello telefonierte. Er ist dicker geworden, momentlang dachte ich, der will’s Dr. Lipom gleichtun; er war bislang… stämmig, ja, das ist der Ausdruck, nie aber wirklich dick. Nun war er’s; vor allem seinem sowieso ausgesprochen runden Gesicht war das anzusehen; um die Kinn- und Wangenpartien wirkte es wie in eine durchgehende Kissenrolle eingelagert. Er bemerkte meinen Blick sofort und rieb sich, durchaus als Entgegnung, ziemlich zufrieden seinen Bauch, über dem die Weste spannte.
Während er noch telefonierte: „I sull Ihna vuan >>>> Titania grüäßan“, und klappte das Handy zu. Mit i h r hatte er telefoniert… weil sie nicht kommen konnte, wie er erklärte, wie auch Deters erklärte. Der Profi erklärte nichts, sah dem Ganzen mit seinem kältesten Blick aber zu, diesem Genauigkeits- und Beobachtungsblick, bei dem man nicht selten das Gefühl hat, er sehe an einem vorbei, und zwar sowohl rechts als auch links, wodurch sich wiederum einem so Betrachteten der Eindruck herstellt, verklammert zu werden.
„Wir dachten, lieber Herbst, es würde sie freuen, so überrascht zu werden“, sagte Deters, der sich seit unserer letzten Begegnung nun überhaupt nicht verändert hat; dieses leicht Effiminierte an ihm, das sein Dandy-Status verschuldet, lag über ihm wie die Restspur eines Parfums, das man vor drei Tagen aufgelegt hat, längst weggewaschen ist, das aber noch an irgend einem Kleidungsstüäck haftet; ich tipp mal, es war seine Krawatte. „Schaun Sie mal“, sagte er geradezu in einem Atem mit der Begrüßung und ließ seinen Blick an den niedrigen Nachbartisch schweifen, „was für schöne Brüste sie hat.“ „Titania?“ fragte ich. Er: „Das kann ich nicht wissen.“ Der Profi steckte sich, die Glut hinaufgestreckt, eine Zigarette an. Daniello hatte wie immer Zigarren dabei. „Darf ich fragen“, so ich, „wieso es zu dieser ehrenvollen Versammlung kommt, von deren Einberufung ich nichts wußte?“ „Aber du weißt es doch nun“, so der Profi, und Deters: „Wir wollten Sie überraschen, außerdem brauchen Sie Geld, oder?“ „Zoahltoag“, ergänzte Daniello, „oaba soagan’s Ihna Gläubiga nichts.“ „Und mich entlastet das mal“, sagte der Profi. „Sorry“, sagte ich und nahm Platz. Deters zückte seine Brieftasche. „1000?“ „1000?“ – Sie werden verstehen, daß ich sofort versöhnt war. Außerdem, wenn man sowas wie die Fiktionäre gegründet hat, darf man sich nicht wundern, wenn sie einem mal die Regie aus den Händen nehmen. „Aber der Anlaß? Ich meine, das Geld hätten Sie mir doch über den Profi zukommen lassen können… Und wozu überhaupt? Ich hab Sie ja nun lange nicht mehr beschrieben, Sie waren, von G***** abgesehen, lange nicht mehr Gegenstand meiner Arbeiten…“ „…meiner Arbeiten“, korrigierte Deters. Ich: „Bitte: Sie waren ja lange nicht mehr Gegenstand Ihrer Arbeiten.“ „Montgelas“, sagte Daniello. „Montgelas“, sagte Deters. „Die schöne Titania findet auch“, ich erspar mir im weiteren die Laut-Verschriftlichung des thüringisch-Wiener Dialekts, in den Daniello jede Rede gerne kleidet, „daß wir Montgelas in die Bruderschaft aufnehmen sollten.“ „Montgelas?“ „Montgelas. Daß Sie darauf nicht selber gekommen sind.“ „Die Gedichte – was er so nennt – haben ihn“, so nun Deters, „ganz offensichtlich… sagen wir: umkonzentriert; Sie haben, lieber Herbst, die Übersicht verloren.“
Die Stimmung war nicht unangespannt; das liegt an dem Spott, den sowohl Deters als auch Daniello mir gegenüber an den Tag legen; es lag auch an des Profis gesteigerter Aufmerksamkeit; er traut den beiden nicht von hier nach da; allerdings traut er mir ja auch nicht. Er ist unser realistisches Prinzip. „Aber wenn Sie mögen, können Sie Titania ja eben anrufen, um sich zu vergewissern.“ Daniello bestellte eine Flasche Roederer Cristal. Erst als die leer war, konnte davon gesprochen werden, daß hier Freunde beisammensaßen.
Die Freunde hatten Pläne, etwa einen neuen Sitz der Fiktionäre betreffend; Daniello hatte allen Ernstes mit dem Gedanken gespielt, eine Suite im >>>> ADLON dauerzumieten. Er lebe gerne, sagte er, in der Nähe der Macht; seine Anfrage beim Kanzleramt, ob da was frei sei, sei leider abschlägig beschieden worden. „Aber ich habe überlegt, ob ich nicht wirklich von Wien nach Berlin ziehen sollte.“ Nochmal dialektal: „Wüssen’S Ihna, die broachan mii, i woas üba dera Politik besser Bescheijd oas die. Un’ die wüssan doas oach. D e s h o l b hoam’s oabgsoagt.“ Dann ging die Rede ein paar Momente lang auf Deters’ Geschäfte und darauf, ob ich nicht zur Behebung meiner ruinösen Situation vielleicht mal wieder in den Mädchenhandel gehen wolle. Er, Daniello, habe unterdessen prima Beziehungen nach Ungarn und in die russische Union. „Oaba Sü soan joa nuan oas Fomilienvoata valurn.“
Jedenfalls: Man wolle montgelas in unseren Kreis aufnehmen, mit sämtlichen

[Brahms, Dritte Sinfonie.]

Rechten und Vergünstigungen, zu deren nicht geringster im Falle eines Falles Fluchthilfe gehöre, der Anspruch auf einen neuen Namen & Paß usw., sowie die standesgemäße Versorgung mit Frauen, die einen wirklich liebten. Dies, wörtlich, Deters.
„Weiß er davon?“ fragte ich. Deters: „Davon hat doch noch niemand etwas gewußt. Wir beschließen, und der neue Fiktionär erhält seinen…“ Daniello: „…Einberufungsbescheid.“ Deters: „Wie halt auch Sie damals.“ „Sie meinen: wie Sie?“ „Gute Replik“, sagte der Profi.
Derweil hatte unsere Lieblingsbedienung, die im Nebenberuf philosophische Traktate schreibt, mit denen sie ihre Professoren traktiert, die zweite Flasche Champagner gebracht.
„Ich muß noch Auto fahren“, wandte der Profi ein. Daniello: „I schenk Ihna oan Chofför.“ Deters: „Und da wir nun beschlossen haben“ – noch nicht ein Wort der Diskussion war gefallen – „daß montgelas von nun an zu den Fiktionären gehört, habe ich den Vorschlag, unseren Kreis gleich noch um Ulrich Faure zu erweitern.“ „Das macht der nicht“, sagte ich, „das kann er gar nicht in seiner Position.“ „Dea wüüd doch goa nüch gfrogt“, sagte Daniello, „dös wür joa noch schöna, wunn wia plötzlich Zuastimmungan oanholn würn!“ „Es wäre aber auch unklug“, beharrte ich, „als Fiktionäre kann er nicht mehr so unvoreingenommen etwas für uns tun, wie wenn er n i c h t zu den Fiktionären gehört.“ „Das ist schon wieder ein gutes Argument“, sagte der Profi, „was ist los mit dir?“ „Doann hätt i gean weenichstans doan Güsi…“ „Gysi?“ „Joa, Güsi.“ „Frau Jolie lebt jetzt auch in Berlin“, sagte Deters. Ich, erschrocken: „Angelina Jolie?“ „Ja. Die würde unseren Kreis sehr kleiden.“ „Spricht die Deutsch?“ fragte der Profi. In demselben Moment kam sie in die Bar. Sogar Daniello, der sich >>>> mit dem Übersinnlichen sonst duzt, war verdutzt. „Realitätskraft der Fiktionen“, sagte ich. Deters: „Meinen Sie? Dann carpen Sie mal den diem und sprechen Frau Jolie an.“ „Wieso denn ich?“ „Weil sie Sie sehen kann. Wir sind ja bloß Pseudonyme.“ Da war der Profi aber schon aufgestanden und zu ihr hingegangen. Zwei Leibwächter – offensichtlich w a r e n es solche, weil ihre Jacketts so spannten – schoben sich vor sie. Aber der Profi zog seinen Ausweis, betreten ließen sie ihn passieren. Sie können sich, Leser, vorstellen, wie spät es nun wurde; n i c h t vorstellen werden Sie sich können, welch eine Kraft das erforderte, danach in >>>> die Realität der Schönhauser Allee durch Berlin zurückzuradeln. Da war es sowas gegen drei Uhr, und es hatte zu regnen begonnen.
Jetzt mach ich mir erstmal den zweiten latte macchiato, rauche den zweiten Cigarillo und geh dann mal wieder an die Scelsi-Variationen. Außerdem muß ich nun montgelas’ Beitrittserklärung formulieren. Die tausend Euro, das sei meinen Gläubigern gesagt, hat der Profi in Sicherheitsverwahrung genommen – nicht vor den Gläubigern, sondern, wie er das ausdrückte, vor m i r. In der Bar sind übrigens auch noch Herr Wilfried Lehmann, mein Briefträger, und sein Kumpel >>>> Sebastian Kleinschmidt gewesen, der >>>> SINN & FORM herausgibt und mir vor fünf Tagen folgende Mail geschickt hat:
Lieber Alban Nikolai Herbst,
danke für die Gedichte. Ich habe sie wie immer mit Interesse gelesen, sehe aber leider keine Möglichkeit, sie bei uns zu bringen.
Mit freundlichen Grüßen
Sebastian Kleinschmidt
Ich habe darauf folgendermaßen reagiert:
Lieber Sebastian Kleinschmidt,
klar. Und es ist ja sehr schön, daß man noch auf manche Entscheidungen hin die Uhr stellen kann. So weiß man doch immer, wie spät es w i r k l i c h ist.
Ihr
ANH
http://www.albannikolaiherbst.de
Hätte sein Bescheid anders ausgesehen, ohne das seinem Geist ganz ungemäße, sagen wir, Ressentiment, wir hätten ihn gewiß zu uns und Frau Jolie an den Tisch gebeten; gerade >>>> deren Schönheit hätte ihm einmal richtig gutgetan. Da wär einmal F r e u d e in sein Gesicht gekommen und hätte das Trauma abgelöst; s o allerdings wird er sie, Schönheit, mit am Hals getragenen Tücherln weiterhin substituieren müssen. Denn daß es nicht viele Menschen gibt, die mit Recht ein freier Geist genannt werden dürfen, >>>> damit hat er einmal recht, auch wenn der Gegenstand s e i n e r Nennung dieses Recht wieder ganz durchstreicht.

[Für die versteckten Links:
Walton, Troilus & Cressida.]

14.09 Uhr:
[Nach dem Mittagsschlaf. Sorabji, Opus Claviembalisticum.]
Ich warte für den Mittagsespresso aufs Zischen der PAVONI. Ein Anruf von Deters weckte mich. Entweder man sieht und hört ihn über Monate nicht, oder er rückt einem permanent auf die Pelle. Es ging >>>> hierum. Tatsächlich hat mich das überrascht. Zumal klingt der Text allzu literarisch. Andererseits gibt es ja auch >>>> d a s, und da weiß ich, daß es sich um keinen Fake handelt, auch wenn da ganz offensichtlich eine meiner Romanfiguren Projektionstaufe gestanden hat.
Jedenfalls: „Bitte fragen Sie nicht nach, lassen Sie die Dame einfach schreiben. Es hat lange gedauert, bis sie sich durchringen konnte. Da wäre es schade, ginge das aufgrund einer Ihrer Indiskretionen wieder kaputt wie bei >>>> Terpsichore, um deren poetische Texte es ein großer Verlust für die Dschungel ist. Jaja, die Zugangsdaten gab i c h ihr weiter, und i c h hab sie auch als Contributorin freigeschaltet. Sie legt extremen Wert auf Anonymität. Und sie m u ß ihn legen. Also lassen Sie uns schauen, wie sich das entwickelt. Doch, ja, von Literatur versteht sie einiges. Und von Bildender Kunst. Mehr will ich nun wirklich nicht sagen.“
Damit legte er auf.
Ich meinerseits hab vergeblich weiter an der Variation XVII herumgeknabbert. Und Korresondenzen wegen der Heidelberger Poetikdozentur geführt. Außerdem hab ich ein paar kleine Hinweise in den Vortrag hineingeschrieben, der mir gestern von der Uni Innsbruck zugesandt worden ist. Um halb zwei muß ich kurz weg, mein Junge bekommt heute seinen ersten Schlagzeug-Unterricht, und dann bin ich bei meiner schönen Fußpflegerin. Sowas gegen 16 Uhr werd ich für die Arbeit wieder zurücksein.

15.15 Uhr:
[Sorabji, Opus Clavicembalisticum.]
Und weiter geht’s.17.03 Uhr:
Das ist vielleicht ein Wahnsinns-Stück: Bach, Chromatische Fantasie und Fuge d-moll (BWV 903). Schon als 15jähriger konnte ich dabei völlig in den Rausch geraten. So alt, übrigens, ist diese Schallplatte. Welch eine Preß-Kunst. Decca.

2 thoughts on “Arbeitsjournal. Mittwoch, der 7. November 2007.

  1. Guten Abend, und Dank der Dame und den Herren ! Wo immer Du auch seist, sage dir dieses:
    ALLES WAS UM MICH HERUM VORGEHT,
    KANN AUCH GESPIELT SEIN.

    Dann wirst du gesund bleiben
    und es dir wohl ergehen auf Erden.
    (Walter Serner, Maxime 422)

    Hochhebend, tiefabgründig und zum rechten Zeitpunkt kommt die Berufung von montgelas in die Fiktionäre, meinte Paul so nebenher zu mir, als er anrief, um mitzuteilen, dass es Neues im Tagebuch gibt. Die Überlagerung von Artifiziellem und Authentizität, wie wir sie bei Serner und fließender, tragischer und in fast allen Fällen beweglicher, in ANH’s Figurenkabinett finden, wirkt im Cyberraum der Fiktionäre, wie die >>>Heisenbergsche Unschärferelation ins Ästethisch-Heitere gewendet. Da hält sich einer wie ich gern auf, und nimmt ganz selbstverständlich seinen Platz ein und grüßt augenzwinkernd winkend in die thüringischen Lande und ins Geviert.
    Im Übrigen rief auch >>>v. Dalberg an, nicht >>>Schillers Mann in Mannheim, sondern der Rheinbundkanzler. Er, skeptisch, ich konnte mir richtig vorstellen, wie er zwischen Halten des Hörers und dem Wunsch seine Rede händeringend verstärken zu müssen in einen antagonistischen Widerspruch mit sich selbst geriet; also er brüllte mir ins Ohr: „ Dass sie, lieber montgelas, mir ja nicht ins “Bündische” geraten, dann sind wir geschiedene Leute. So wahr mir der Kaiser helfe. Gott habe ihn selig in seiner Gruft. Dieser Sorge kann ich ihn entheben, in dieser Runde wird kein Salamander gerieben werden.

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