In den Zeitachsen verschwinden…

Eines ist sicher, wenn man in diesen Bus einsteigt, bekommt man die riesengroße Chance, einfach für eine Zeit verschwinden zu können. Vielleicht habe ich deswegen Katanga nicht gleich gesehen: „Verzeihen sie, sah ich sie vorhin nicht?, entschuldigen sie bitte – ich hätte sie sehen müssen, sie sind doch immer da“. Ein paar ruhige Augen schauen mich an, sie haben allerdings ganz hinten einen ganz eigenen Hintergrund: „Sie sahen mich nicht, bisweilen mache ich mir das Vergnügen, kurzweilig in der sich im Fenster spiegelnden Zeitachse eines anderen Fahrgastes einfach zu verschwinden“. „Oh… sie wissen davon?“. Bruno Lampe erhebt sich und gesellt sich dazu: „Nur in den Bussen und manchmal auch in den Zügen, sieht man die sich in den Fenstern spiegelnden Zeitachsen der anderen Fahrgäste, sie queren sich gegenseitig. Auf diesen Kreuzungen bilden sich die Zwischenraumachsen, mit ihren Zwischenachsenräumen, nur hier begegnen sich die Menschen wirklich, hier treffen sich aber auch die Zwischenachsenträume und geistern gemeinsam durch die Zwischenräume, manchmal treiben sie Schabernack… da muss man aufpassen, dass man rechtzeitig einen der Ausgänge findet“. „Danke, so hat mir das noch niemand erklärt, aber ich wusste es immer, schon als Kind wusste ich, warum ich Busse und Züge so liebe, weil ich einfach verschwinden kann, ohne das jemand es merkt“. Bevor ich in Bruno Lampes Zeitachse versinke, schaue ich noch einmal leise in Katangas Gesicht. Da ist etwas, was mich rührt… es ist leise, aber tief im Hintergrund. Es gibt solche Augenblicke, wo ich sehe und weiß, dass ich nicht sagen muss, was ich da sehe. Mit das Schönste, was man einem Menschen angedeihen kann, ist, ihn die eigene Fähigkeit des einfachen Sehens spüren zu lassen. Er ist da, und das ist gut so – für uns alle.

Paul Reichenbach hat davon nichts mitbekommen – er hat die Nase in ein Buch gesteckt, dabei muss er sich garnicht so beeilen, es wird doch Nacht. ANH sitzt hinten auf der Bank und schweigt, was er immer tut… wenn er solch eine Szene vor sich sieht, den Stift hat er schon in der Hand. Prunier hat sich verkrümelt… er schläft, Lutz Hesse und Montgelas unterhalten sich ganz leise… die Flasche Rotwein ist schon offen. Ich sinke in mein Polster und überlasse mich Bruno Lampes Zeitachse, manchmal suche ich mir den Menschen bewusst aus, dessen Zeitachse ich wähle und manchmal erreicht mich die Zeitachse eines Menschen schon bevor ich ihn sehe, mein letzter Blick, bevor ich die Augen schließe, gilt noch einmal Katanga – er ist nicht zu sehen.

2 thoughts on “In den Zeitachsen verschwinden…

  1. Milch überholt ein ganzer Wald, dem quer ein Fußgänger folgt, der vom Bild eines Autos überfahren, plötzlich mich von hinten anspringt. Und als ich mich umdrehe, schau ich dem Busfahrer ins Gesicht, der aber sagt nur: “Benvenuto”. Gut, daß wenigstens der Fußboden nicht gläsern. Die Füße sagen wie immer: “Wir sind es nicht gewesen”.

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