Arbeitsjournal. Mittwoch, der 12. Dezember 2007. Berlin und Heidelberg.

5.54 Uhr:
[Arbeitswohnung. Verdi, Falstaff.]
Verspätet auf; schwer geträumt; ich habe ja noch bis in die Nacht an der „Kybernetisierung“ meiner zweiten Vorlesung gearbeitet. Gestern ist übrigens in der FAZ ein heftiger Verriß von Vorlesung & Werk des von mir hoch geschätzten Helmut Kraussers erschienen; UF hat mir das kopiert und hergeschickt. Der Text, von der „Münchener Korrespondentin der FAZ“, Frau Teresa Grenzmann, geschrieben, ist in einigen Sätzen verräterisch; ich nähme ihn gerne à la Karlkraus auseinander, hatte aber auch dazu gestern nicht die Zeit. Das werde ich nachholen, doch kaum vor nächster Woche. Allerdings spiele vielleicht während der Fahrt schon ein wenig mit ihm herum. Erinnern Sie mich aber bitte, falls ich es bis zur nächsten Woche vergessen sollte. Allein s o l c h ein Satz nämlich strotzt vor verletzter Mißgunst:Denn der klassischen Vorlesung zieht Krausser eine Stilblütenlese seines selbsternannten Ausnahmetalents vor – in einem übervollen Saal von Studenten, die in erster Linie Fans sind.
(Unterstreichung von mir.)
Um das einfach mal klarzustellen: Nicht jeder Autor, der eine Poetik-Dozentur hat, muß sie auch im Stil klassischer Vorlesungen wahrnehmen; auch Wolfgang Hilbig, in Frankfurtmain seinerzeit, hat das nicht getan; daß ich es so tue, hat etwas mit meiner Lust an Theorie zu tun, ich bin von spekulativer Theorie erotisiert, darum bereitet sie mir Vergnügen; erkenntnisbildend können aber auch andere Formen sein, auch an Universitäten. (Die beiden Unterstreichungen, ich bin mir des’ gewiß, stehen in einem Zusammenhang.)

Muß heute morgen mein Zeug zusammenstellen, zumal ich noch das Wochenende an die Berliner Abwesenheit dranhänge, um zu meiner erkrankten Mutter in den Schwarzwald weiterzufahren. Dabei ist allein meine „Sockenlage“ bedenklich, ich hätte längst mal wieder waschen müssen. Aber ich hab ja Handgeld dabei und kann mir unterwegs Socken und T-Shirts kaufen, wenn ich sie brauche. Diesmal, denk ich mir, kreuze ich in Heidelberg nicht im Anzug, sondern in (verschmutzten) Jeans und Lederjacke auf, den neuen alten Wintermantel, den mir Eisenhauer vorgestern abtrat, weit obendrüber geworfen. Erscheinungswechsel gehören zu einer Inszenierung, die meine poetische Kategorie der Vermischung nicht nur illustrieren, sondern austragen.
Obwohl sich >>>> darauf tatsächlich keiner gemeldet hat, packe ich auch zweidrei Hörstücke ein; mal sehen, ob improvisiert werden kann.
Mein moobicent-USB-Modem läuft, sogar UMTS, so bleib ich Ihnen auch während der Eisenbahnfahrt erhalten. Mittags mach ich einen kurzen Aufenthalt in Frankfurtmain und geh mit Do essen, die ich ewig nicht mehr gesehen habe; es gibt viel zu erzählen. In Heidelberg werde ich dann um 17.46 Uhr ankommen, „mein“ Zimmer in der Uni beziehen und dann auch schon ziemlich gleich zur Wolpertinger-Lesung abrauschen.
NB: Gestern, als ich meine Zweite Vorlesung, durcharbeitete, kamen mir Zweifel, ob der >>>> WOLPERTINGER gerade die richtige Auswahl für die Lesung sei; gerade bei d i e s e r Vorlesung empfähle sich ANDERSWELT sehr viel mehr. Aber ich habe einfach Freude daran, meinen alten Romantext wieder einmal mit interpretierendem Leben zu füllen. Und gerade der WOLPERTINGER stand ja am Anfang meiner in ANDERSWELT durchbrechenden kybernetischen Konzeptionen. Außerdem ist er über Strecken ein w i t z i g e r Text, das wird das Publikum erfreuen wie mich selbst. Er stellt dem vergleichsweise kalten Theoretisieren der Vorlesungen F l e i s c h, Erzählfleisch, zur Seite und konterkariert sie.

Schön, heute morgen den Falstaff zu hören, der so sehr zu meinen allerliebsten, mir allnahsten Opern gehört (daß ich „allnah“ schreibe, ist ein Auslassungs-Vertipper; aber ich laß ihn stehen, so schön ist er; vielleicht verwende ich das Neuwort von nun an bewußt).

6.50 Uhr:
Wie zu erwarten war, erhalte ich von dem Opernnetz-Herausgeber gerade einen Brief, in dem er mir die Zusammenarbeit aufkündigt, >>>> auf den ich auch gleich geantwortet habe. Unter anderem schreibt Stuke unter Ausklammerung des Faktes, daß man für Opernnetz-Beiträge nie ein Honorar erhielt:
In den letzten Jahren hatten Sie die Chance, Ihre Aufführungs-Analysen von Opern-Produktionen der Berliner Opern-Häuser in unserem Internet-Magazin http://www.opernnetz.de
publizieren.
Er will ein Dankeschön hören. Das hat etwas geradezu lächerlich Perfides, als müßte nicht umgekehrt das Opernnetz seinen Mitarbeitern danken, weil sie unentgeltlich für das Projekt gearbeitet haben und weiterarbeiten. Allein dieser Satz reicht, um die Grundlage einer weiteren Zusammenarbeit als grob gestört und schließlich unmöglich anzusehen.

10.22 Uhr:
[ICE Berlin/Spandau-Hannover.]
Ziemlich voll heute, und ich habe keinen Platz mit Stromanschluß bekommen; da muß jetzt, wenigstens bis Hannover, der Akku reichen. Während der S-Bahnfahrt nach Spandau ein enorm soghaftes Buch zu lesen begonnen: >>>> Darcy Ribeiro, Maíra (1976), auf Deutsch von Heidrun Adler als suhrkamp taschenbuch erschienen. Hinreißend. Das Buch ist dreißig Jahre alt, und ich entdecke es jetzt: Auch das sagt viel über die Wichtigkeit des gerade opportunen Feuilletons. Sollte der Laptop stromtechnisch abkacken, les ich einfach weiter. Und frühstücke grad eines von diesen überteuerten, aber enorm schmackhaften Tramezzini, die sie hier haben.
Als auf dem Bahnsteig Prenzlauer Allee stand, rief >>>> Dielmann an; kaum zu fassen. Er kommt jetzt um 14 Uhr in Frankfurtmain dazu. Ich muß auch wirklich wissen, woran ich bin und womit in den nächsten Monaten zu rechnen oder eben nicht zu rechnen ist.

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