Arbeitsjournal. Donnerstag, der 24. April 2008.

5.01 Uhr:
[Arbeitswohnung. Harrison Birtwistle, Gawain.]
Das hat nun einen schwebenden, freitonal wirkenden Ton, in den sich gerade jetzt am Anfang sehr reizvoll Klänge mischen, die ich aus großen Varietés in der Erinnerung habe, ohne je in einem gewesen zu sein. Höchst eigenartig, nämlich gerade einer der weiblichen Singstimmen; Lady de Hautdeserts. Das hat einen ungemeinen Sog, wenn man, um Erschütterung empfinden zu können, nicht mehr auf Tonalität angewiesen ist. Birtwistle steht immer noch auf meiner emotionalen Durchdringungsliste; es scheint, als wäre der Moment nun gekommen. Für nicht wenige große Musiken gilt, daß man sie sich hörend erarbeiten muß, bevor sie einen mit dem Rausch entgilt; ich mache momentan am Cello mit meinen kleinen Anfängerstücken eine ganz ähnliche Erfahrung: etwas einstudieren nennt man das. Man liest dreivier Tage lang ein Papier Noten und begreift nichts, probiert aus, irrt erst, kommt langsam dahinter, und plötzlich geht es von der Hand; drei Wochen später fragt man sich, was man da denn als schwer und undurchdringlich angesehen habe… Solche Erfahrungen, sie sind aber seltener, gibt es auch in der Dichtung. Ich erinnere mich, als 15jähriger ziemlich blind in Dostojewskis Dämonen eingedrungen zu sein, blind, aber unbedingt gewillt. Etwa ein Jahr dauerte das, dann fielen die Schleier weg, und bis heute ist mir dieser Roman einer der nahsten. Später, an der Uni, ging das mit philosophischen Texten so, auch hier stand vor der Durchdringung, einer Art intensiven Verständnisses, Erarbeitung; in meiner Jugend gehört auch Joyce’s Ulysses in diesen Zusammenhang, Fladl-Martinez noch (völlig unbekannt heute, wenn ich nicht sehr irre), seine Variationen über die Nacht, die auf Motiven von Finnegan’s Wake beruhen. Und dann kam der für mich seinerzeit riesige Schritt in die Neue Musik; mit 16 noch, anläßlich einer Aufführung der Jenufa in Braunschweig, rannte ich aus dem Zuschauerraum, weil mir von den nicht-tonalen, einfach nur frei-tonalen Klängen übel geworden war, die ich heute fast schon als kitschig erlebe. Aber auch da: Wille und Trotz, mich nicht ausnehmen zu lassen, es erfassen, vor allem, es fühlen können zu wollen. Etwa zwei Jahre dauerte das, und brauchte die kurze, aber prägende Begegnung mit Stockhausen und Otte, bis die Augenbinde, die um die Ohren gelegt war, zerfiel; auch hier: Anstrengung. Dann hörte ich rigoros einige Jahre lang n u r noch Neue Musik, einmal das Repertoire rauf, dreimal das Repertoire runter, nun angeödet von allem, was nach harmonischem Tongefüge klang, fast geekelt; entsprechend radikal war ich dann auch. Erst nach dreißig fing das an, sich wieder zu lockern: über die freitonalen Musiken der Zwanziger Jahre, Schreker usw., schließlich brach Schnittke in mein Hörerleben ein, schnell von Britten gefolgt, von Othmar Schoeck, einigen Stücken Ravels (La Valse etwa, als Ausdrucksmusik)… und jetzt sprengt grad was die Truhe, in der bis heute für mich immer noch Birtwistle gesperrt war; ich habe nur immer mal dann und wann den Deckel etwas angehoben, um zu schauen, ob es schon an der Zeit ist, daß ich was sehe. Seltsamerweise scheint sich das Gehör auch ohne Willensanstrengung nebenhin mitzuentwickeln, wie auch manche Bücher eben auf ihre Zeit warten. Übrigens tun das, meiner Erfahrung zu trauen, auch Kunstwerke, die man überhaupt nicht mag. Ganz plötzlich strahlen sie ein Licht aus, und anders, völlig anders als bei Kunstwerken, die unmittelbar, schon beim ersten Hören und Betrachten, wirkten, bleibt ein solcher Einfluß dann für immer bestehen. (Dieses „für immer“ ist freilich zu bedenken, da mein Leben ja nun noch nicht zuende ist).

Bis kurz vor 22 Uhr habe ich Am Terrarium noch Cello geübt; die Geliebte war im Kino, die Kinder schliefen fast störungsfrei fest, dem „Großen“ las ich zur Nacht länger als eine halbe Stunde vor; bevor ich morgen abend wieder Richtung Hausach fahre, wollen wir das jetzige Gutenachtbuch zuendegelesen haben: „Bo im Wilden Land“. Und ich spiele mit dem Gedanken, den Buben jetzt an Karl May heranzuführen, wobei ich gern die Wüstenromane hernehmen will, die mich selbst früher sehr benommen haben; einerseits deshalb, andererseits, weil sie zu Ardistan und Dschinnistan hinführen, die Arno Schmidt unter die großen Werke der Weltliteratur rechnet. Und, sowieso, weil sie auf die Nähe zum Orient setzen. Die Winnetou-Serie ist mir letztlich immer fremd geblieben.
Also bis zehn Uhr geübt, sowas um anderthalb Stunden, und meine Finger mit einem kleinen Menuett J.S.Bachs durcheinandergebracht, während der einfache Purcell (Rigadoon) jetzt läuft; ich krieg sogar bisweilen einen Ton hin, der „schön“ ist. Aber unterm Strich: Bei mir bleiben es noch Töne, während das Cello, wenn meine Lehrerin es spielt, singt. Hingegen bin ich noch nicht ans Akkordeon gekommen, weil ich erst einmal eine Anfängerschule besorgen muß, die einem auch Fingersätze beibringt.

Ich will heute morgen noch einmal über meine Pynchon-Rezension hinlesen, sie dann umformatieren, dann ausdrucken, abends noch mal auf dem Papier lesen, dann liegenlassen bis zum Montag, wenn ich die letzten Korrekturen anbringen werde. Danach geht das Dingerl dann an den >>>> FREITAG; so ist das mit dem Redakteur Arend jetzt ausgemacht.
Nach der Rezension nehme ich die Revision der BAMBERGER ELEGIEN wieder auf; es wird Zeit, daß ich damit durchkomme, aber es ist noch sehr viel Arbeit. Ich hatte >>>> Dielmann wegen etwaiger Zopfigkeiten gefragt und geschrieben, daß ich mit dem Gedanken spielte, die Strenge des Hexameters nun wieder aufzubrechen, und zwar vor allem überall dort, wo das Versmaß zu Altertümlichkeiten des Ausdrucks zwingt, bzw. – da mir ja auch bloß das Vermögen fehlen könnte – verführt. Aber es kam noch keine Antwort. Und morgen nachmittag wird Ralf Schnell, der Herausgeber des >>>> horen-Themenbandes zu ANDERSWELT, hierherkommen, um die Zusammenstellung mit mir abzusprechen. Vielleicht ist es besser, statt an die Elegien zu gehen, deren Bearbeitung ich morgen und am Wochenende sowieso schon wieder unterbrechen muß, die Fotos und Materialien zu dem Themenband zusammenzusuchen und auf CDs zu brennen; danmn wäre für die horen-Redaktion schon mal alles beisammen, und ich könnte es auch Schnell zeigen. Ja, ich denke, d a s werde ich tun. Na, dann kann ich jetzt ja, ohne meine Fünfjahresplanwirtschaft dauernd im Nachhinein ändern zu müssen wie ein DDRler der Poetik, mein heutiges Dts skizzieren.

Moijn allerseitsInnEn.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .