Sich in die Zeiten schicken. 09.06. 2008. Paul Reichenbach als Ober(be)lehrer.

Stellen Sie sich vor, heute wäre Donnerstag, der 5. Juni. 2008. Deutschland hat noch nicht gegen Polen gewonnen und im Landkreis “Sächsische Schweiz ” haben die Bürger noch nicht, wie es am folgenden Sonntag dann geschehen wird, die NPD zur drittstärksten Partei im Kreis gewählt. Und die reichliche Belehrung, die nun folgt, hat mich vergangenen Donnerstag nicht gestört. Heute dagegen stößt sie mir sauer auf. Aber eine Zensur findet nicht statt:

Paul als Oberlehrer. Die armen Schüler. !

Was wäre wenn, hätten statt Spanier Italiener Amerika entdeckt, fragt Gracian sinngemäß in irgendeiner seiner Schriften. Ich kann jetzt nicht nachschauen, bin in Eile, spätestens in einer Stunde wollen wir los. Nach Sachsen, wo die schönen Mädchen wachsen, wie das Sprichwort sagt, und was ich nur bestätigen kann. Was wäre, wenn, frage ich mich, Deutsche Amerika entdeckt hätten. Ist das überhaupt vorstellbar? Lübecker und Stralsunder Pfeffersäcke auf dem Weg durch die Kordilleren, nachdem sie irgendwo mit ihren Koggen, nehmen wir mal an, die wären überseetüchtig gewesen, an den Küsten Perus ihre Anker geworfen hätten. Der Gedanke scheint absurd. Denn zu Kolumbus Zeiten gab es die Deutschen, wie wir sie heute kennen, so noch nicht.
Teutsche, in der Schreibweise begegnen uns bei Hutten u. a die Bewohner zwischen Rhein, Elbe und Weser, haben sich ja im Unterschied zu den Spaniern erst 1871 zu einem Staat gemausert, was, wie wir wissen, schlimme Folgen für die europäische Geschichte nach sich gezogen hat. Also Amerika, das ist mit Sicherheit anzunehmen, hätten die Deutschen es entdeckt, wäre erst so gegen 1872/73 für die Welt sichtbar und attraktiv geworden. Die Schlacht am Little Big Horn hätte auch stattgefunden, allerdings hätten die Konquistadores tedesci sie geführt, während auf indianischer Seite Sitting Bull, nun schon grauhaarig, seine Federkrieger ins Feld schickte. Und das Inkareich, um wieder auf den Süden zu kommen, machen sie sich keine falsche Hoffnungen, da bin ich auch sicher, wäre lange vor der Landung preußischer Marine und Hamburger Handelsschiffe untergegangen gewesen. Denn eine Zentralmacht, die kein Rad braucht, kein Pferd kennt und Maisschnaps in Massen für das Volk bereit hält, hätte sich auch ohne Cortez und Pizarro, ohne spanische Syphilis, in seine Bestandteile aufgelöst. Hätten preußische Deutsche Amerika gefunden, dann wäre der Prozess der Kolonisierung anders als bei Engländern, Franzosen und Spaniern verlaufen…
Betrachtet man sich die zwischen 1900 – 1916 vom Reichstag beschlossenen Haushalte, also schaut man sich die Berichte über die Ein- und Ausgaben in den deutschen Kolonien an, wird man feststellen, Gewinn war mit Eisenbahn-, Schul- und Krankenhausbau nicht gemacht worden. Nicht gleich aufschreien, liebe Leser! Es gab schon Gewinner, die Namen sind bekannt und müssen jetzt nicht aufgeführt werden. Die preußische Verwaltungstradition, Bismarck, wenn sie so wollen, dachte eben nicht nur an Geschäfte. Staatlicher Ordnungssinn ging ihr vor Profit. Holländer, Engländer und Franzosen stattdessen nahmen in punkto Kolonien lieber etwas Chaos in Kauf, wenn Gewinnerwartungen dadurch gesteigert werden konnten. Aus der Perspektive der eroberten Völker liest sich das allerdings anders. Herero, Indio Indianer oder Tatar, – denkt man an Russlands Rolle als Kolonialherr, die der deutschen ähnlich war, die Transsib war ein Werk Nikolaus II, – den eroberten Völkern war die Form der Unterdrückung egal. Sie fühlten ihre Kultur und ihren Lebensraum bedroht und versuchten hilflos, technisch unterlegen, sich gegen die „Herrenvölker“ zu wehren, um Herr ihres Selbst bleiben zu können. Es gelang ihnen nicht. Und so, um abgewandelt mit Gracian zu sprechen, schickten sie sich für lange Zeit in die Zeiten.

2 thoughts on “Sich in die Zeiten schicken. 09.06. 2008. Paul Reichenbach als Ober(be)lehrer.

  1. @ Reichenbach zur EM. Gestern abend, vor, glaub ich, Wallander war’s, als ich für eine Zigarette auf dem Balkon des Terrariums stand, hörte ich skandieren “Deutschland! Deutschland!” Daß es ein Sieg über Polen war, nahm den lustigen Deutschlandmützen, die ich tags sah, das Clowneske. Und auch d a s ist bitter und typisch Geschichte, daß ein Pole beide Tore gegen Polen schoß.

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