Bücherstaub. 18.06. 2008. Paul Reichenbach kramt in alten Blättern.

Den ganzen gestrigen Tag, meine Glieder waren am Abend wie zerschlagen, räumte ich alle Wandschränke, vorher hatte ich die offenen Regale um die Hälfte geleert, in meinem Büro aus. Die Anweisung dazu kam von ganz Oben. Eine bekannte Schwäche der Herrscher, schreibt Gracian, ist ihre Launenhaftigkeit. An anderer Stelle heißt es bei ihm: Es gibt Berufe, deren Haupttätigkeit darin besteht, auszuwählen. Ich habe einen solchen Beruf. Und auszuwählen, was wird aufgehoben, welches Buch wird weggeworfen, dies oblag mir gestern. 6 Stunden Bücherstaub, blättern, grübeln, entscheiden und Altpapiercontainer füllen, so sehen Tage aus, die jeden Ruhepunkt vermissen lassen. Ich werde älter, das spüre ich ganz besonders, wenn ich die Treppenleiter aufklappe, um aus dem höchsten Wandschrank die dort eingeschlossenen Reichsgesetzblätter zu holen, denen ein neuer Standplatz zugewiesen werden muss. Schmerzlich, klafft doch eine Lücke im Schrank, registriere ich den Verlust der Jahrgänge von 1871 – 1878. Mindestens 10 Jahre, wenn nicht noch länger, ist es her, dass ich die Blätter das letzte Mal in der Hand gehalten habe. Und nun fehlen 8 Bände. Der sie stahl, den sollen die Hände verdorren. Ist doch für mich eine unvollkommene Sammlung wie keine Sammlung. Gesetze wiegen vor Gericht schwer, und nicht nur die Hände schmerzen mir noch heute von den scharfen Kanten der Einbände. Manche Lasten verbergen sich zwischen den Buchdeckeln. Dank der Alliierten, unvollkommen und nicht zu Ende gebracht, der Jahrgang von 1945. Der letzte Eintrag im RGBl, Nr.10 vom 11. April 1945 ist eine „Verordnung für die Ausfallvergütung“, die am 24. März des Jahres vom Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz >>>Sauckel, erlassen wurde. Treffe ich auf diesen Namen, lese ich immer Saukerl. Der Erlass Hitlers vom 21. März 1942 über die Ernennung eines Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (in: Reichsgesetzblatt I/1942, S. 179), “leitete die massenhafte und generell die teilweise bereits vorher praktizierte Zwangsdeportation von Millionen europäischer Arbeitskräfte zum Einsatz in der deutschen Rüstungswirtschaft ein.” Sauckel wurde in Nürnberg hingerichtet. Und wie lange dauerte es, dass die Zwangsarbeiter Entschädigung erhielten, der schmähliche Hickhack darum, daran habe ich mich gestern auch erinnert. Erst 2000, also 55 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft, wurde die Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ errichtet.
Um es kurz zu machen, der Tag gestern ist für mich verloren, weil selbst am Abend keine Ruhe einziehen wollte. Ein Leben ohne Ruhepunkte ist wie ein langer Weg ohne Wirtshäuser – wie, wenn man es in der Gesellschaft Heraklits (d.h. weinend!) verbringen muss. (Gracian).

>>>> Bildquelle: Lea Grundig, Das Ungeheuer.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .