Arbeitsjournal. Freitag, der 11. Juli 2008.

5.16 Uhr:
[Arbeitswohnung. Sallinen, Cellokonzert.]
Gerade so vor dem Regen hierher gekommen eben; mit dem schönen Wetter war es seit etwa Höhe Magdeburg vorbei; aber warm ist es geblieben, schwül war es gestern abend, die Straßen dampften. Nachdem ich schnell noch >>>> zu meinem Jungen geradelt war, nahm ich mir bis 22 Uhr mein Cello; man merkt zwei Tage Pause sofort, also ich merke sie, dessen Finger noch nicht träumend laufen. Dann einen Film gesehen, während ich gestern über Tag während der Fahrt >>>> Benjamin Steins Ein anderes Blau las; einige Stellen sind so bemerkenswert, daß ich später eine von ihnen zitierend in Der Dschungel einstellen mag. Im übrigen fuhr der ICE einige Zeit Schritt, nämlich hinter einer Herde Kühe her, die auf den Gleisen flanierten – was immer sie da nun gesucht haben mochten. Leider war keine Kuh zu sehen, das hätt ich schon gern gemacht, das Foto eines ICEs, der langsam durch ein Kuhmeer fährt, das wär sicherlich fotografierte Poesie gewesen.
Ich habe Bilder von Heidelberg im Kopf, und von einer Flugreise nach Tallinn, und einige Sätze DB’s hallen stark nach, etwa was er von der Schöpfung sagte, die er mit dem erklärte, was Schlupfwespen mit Kakerlaken tun, „sie stechen sie in den Hinterleib, so daß sie bewegungsunfähig sind, dann beißen sie ihnen die Hinterbeine ab, dann stechen sie sie in den Unterbauch, dann beißen sie ihnen die Antennen ab, dann graben sie die Tiere ein und stechen ihren Legestachel in sie und legen ein Ei“, eines, ja, sagte er wohl, ich bin mir aber nicht sicher, „und wenn die Made schlüpft, ernährt sie sich einen Monat lang von dem bewegungsunfähigen, lebendig begrabenen Kakerlakenkörper, ich meine, da hat man doch selbst als Kakerlakenhasser Mitleid und bekommt einen Begriff davon, was diese Schöpfung i s t“. Er wird jetzt siebzig, hat immer noch seine verschiedenen Geliebten, die er immer noch in seinem Erotikon empfängt, das er über all die Jahre gehalten hat und auch jetzt noch weiterhält. „Es stehen gute Weine dort, es steht mein ***geist dort, der vierzig Jahre alt ist und von dem ich nur noch zwölf Flaschen habe, aus denen ich nur denen einschenke, die sich nicht betrinken“. Der Mann hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht verändert, er wirkt nicht älter geworden, sondern ist so fränkisch-kantig, so zurechtgeschnitzt, wie er es immer war, und voller Gedichte, die er auswendig aufsagen kann; das tut er oft, und es ist, als ob er sänge, wenn er es tut. Mit fünfundsechzig warf er sich in den letzten Fallschirmsprung seines Lebens, „das ging noch gut, aber dann, in Paris, plötzlich bekam ich keine Luft mehr, als ich die Metrotreppen hochstieg, und in New York… plötzlich… der Rücken. Das Alter, Alban, kommt von hinten, manche haben Glück, die fallen nur um, aber was tust du, wenn es dich lähmt und du nicht mehr selber entscheiden kannst?“ Wir haben ein altes Abkommen, dieser Mann und ich: kann der andere nicht mehr selbst entscheiden, wird es der Freund tun. „Noch zwanzig Jahre, Alban, dann wirst auch du es merken.“ Er ist auf seine Weise soldatisch, was eine bestimmte Form der Haltung meint: „Ich merke es, ja, aber ich mache weiter. Es wär doch gelacht. Was immer ich erreicht habe in meinem Leben, das habe ich nur dadurch erreicht, daß ich stur geblieben bin, daß ich konsequent geblieben bin.“ In einem Vierteljahr wird er mit einem großen Motorrad durch Australien fahren, dieser Mann, der den gesamten Tasso auswendig weiß und auch schon mal im Nebenbei italienische Renaissance–Dichter im Original aufsagt. Er ist der Vater, den ich gerne gehabt hätte in meinem Leben. Aber er hat keine Kinder.

Ich werde heute früh die ersten Lektoratsergebnisse von vorgestern auf die Gedichte aus DER ENGEL ORDNUNGEN übertragen, dann mit den BAMBERGER ELEGIEN weitermachen, nachdem nötiges Administratives und Korrespondenz erledigt ist. Außerdem, ab 8 Uhr, geht es ans Cello. Sowieso. Ich müßte auch dringend die neue Webcam umtauschen, die weniger bewegte Realbilder überträgt, als daß sie eigenständig mit Videokunst experimentiert. Und Johann Tammen, wegen des ANDERSWELT-Themenbandes der >>>> horen ist anzurufen, weil eigentlich dringend die Bilderauswahl vorgenommen werden müßte. Ich habe keine Ahnung, wie herstellungstechnisch terminiert ist.

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