Arbeitsjournal. Mittwoch, der 5. November 2008.

4.59 Uhr:
[Am Terrarium.]
Gegen sechs war ich daheim, blieb dann den Abend über auch hier und las nach dem Abendessen „einfach“ weiter, als die Kleinen zu Bett gebracht waren, also, als dem „Großen“, Dir, mein Junge, zur Nacht vorgelesen war, >>>> „Krabat“, wovon Dir die Mama sagte, Nein, bitte erst das Buch, dann darfst du auch den Film sehen; mach es dir bitte nicht kaputt. Woran du dich auch sofort, ohne irgendwie zu mucken, halten wolltest, auch wenn deine Freunde momentan alle hineingehen, ins Kino, nicht ins Buch. In der Tat wird es zunehmend mehr Menschen geben, die überhaupt nicht wissen, daß etwas eigentlich „ein Buch“ war und einiges einfach für Filme halten; es findet hier eine schleichende – doch gar nicht langsame – Verschiebung statt.
Ich ging weiter durch „m e i n“ Buch, Schwartz’ >>>> Schnee in Samakand. Es ist mehr als faszinierend, wenn auch zur Zeit noch nicht s e h r viel mehr als ein Geschichtsbuch; Schwartz’ Reisen geben aber immer den auch handelnden Hintergrund ab, und daß er die Zeiten aneinander-/ineinanderrückt, führt in mir zu neuen und aberneuen Begeisterungen. Man braucht freilich eine Karte, Landkarte, man braucht mehrere, wenn man mit der Topographie nicht völlig vertraut ist, oft gehen die Anspielungen über 1000e Kilometer Entfernung, man geht mit Schwartz >>>> Khorogs einzige Straße entlang und erfährt von der frühmittelalterlichen Rolle >>>> Quanzhous, deren Einfluß auf Khorog erzählt wird, über den Einfluß des Hindu Kuschs überhaupt und im besonderen den Austausch Arabiens und Chinas. Nun kann man herkömmlich die guten Karten herbeiziehen, ich habe drüben den schweren großen Atlas der Enzyclopedia; aber es empfiehlt sich – ich empfehle – Schwartz’ Lesern auch hier das Internet: auf das leicheste läßt es sich zwischen den Orten und Gegenden hin- und herspringen, man kann hineinzoomen oft, man findet Karten verschiedenen Maßstabs, zugleich auch immer mal wieder ein Bild genannter Orte, ebenso Abbildungen von Abbildungen aus vergangenen Jahrhunderten, um zu schweigen davon, daß man sich, ohne riesige Materialberge aus Papier um sich türmen zu müssen, immer auch schnell Überblicke von anderen Sichtweisen auf die Verhältnisse besorgen kann. Wichtig, besonders wichtig an meiner Leseerfahrung ist aber die Erfahrung, die Erkenntnis, daß es sich beim Fundamentalislamismus ebenso wenig wie bei seiner terroristischen Kriegführung keineswegs um eine Neuerung handelt, sondern daß sogar 9/11 in einer Kontinuität von Widerstand steht, der zwar bisweilen über lange Jahrzehnte verschwindet, immer aber auch wieder aufbricht. Etwa war mir überhaupt nicht klar, daß Khomeinis Feindschaft gegenüber moderner Technologie ganz einfach wirtschaftliche Gründe hat: sie führte in Persion unter dem zur (folternden!) Marionette gewordenen Schah zur Erwerbslosigkeit, weil die Vorrangstellung der persischen Teppichwebkunst kippte. Und die Erstarkung des Islams sei, so Schwartz, eine Entwicklung einer sich wieder belebenden, unter den USSR brutal niedergedrückten kulturellen Selbstwahnehmung; was uns als terroristische und/oder Kriegs-Bewegung vorkommt, ist de facto Emanzipation einer gedemütigten Kultur. Wenn man sich parallel betrachtet, daß Vasco da Gama den Seeweg nach Indien allenfalls bis zum Kap der Guten Hoffnung „entdeckte“, weil nämlich von dort aus nach Indien die Araber längst seit paar Jahrhunderten Seehandel trieben, und ein arabischer Lotse geht bei da Gama an Bord und zeigt ihm den richtigen Weg… – dann bekommt man einen deutlichen Begriff dieser Demütigungen, nicht nur durch das sowjetische Regime, sondern durch die ganze westliche Welt als Kulturphänomen. Und liest man die Parallelisierung der Vorgänge durch die Zeiten (Schwartz geht bisweilen bis ins 6. vorchristliche Jahrhundert zurück), dann bekommen auch die Massaker, nicht nur die Kriege, eine nachvollziehbare Kontinuität, und was u n s als Kulturbruch vorkommt, ist das direkte Ergebnis politischer Kalküle, in der Neuzeit meist solcher, an denen unsere eigene Kultur alles andere als unbeteiligt gewesen ist und ist – um einmal von unseren eigenen Kulturbrüchen zu schweigen, denen unserer eigenen Kultur.
Am liebsten läse ich sofort weiter.
Ich habe aber zwei Exposés zu schreiben. Später am Vormittag ist mit >>>> marebuch zu telefonieren, wegen eines Hamburger Termins, abends werde ich zur Generalprobe von >>>> Birtwistles Io-Passion gehen, über deren am Freitag abend stattfindende Premiere ich schreiben will. Habe bei der Sonntagszeitung angefragt, aber auch dafür keine Antwort erhalten. Seltsam und ein wenig ungeheuer ist mir das: kurz nach der Buchmesse an Edo Reents wegen Schwartzens Samarkand-Buch angefragt, per Mail eine unverbindliche Frage an Frau v. Lovenberg, die neue Literaturchefin der FAZ, gestellt, bei Eleonore Büning, ebenfalls wegen zweier, nun aber Musik-Bücher, angefragt und vorgestern eben wegen der Io-Passion – und es kommt von keiner/m eine Antwort. Ich komme nicht umhin, so etwas zumindest für unhöflich zu halten, aber imgrunde wittere ich ein ganz anderes Gras, daß es da wachse…

Den ersten Cello-Unterricht nach den Ferien werde ich morgen um Viertel vor zehn haben; heute setz ich mich wieder gegen neun an mein Instrument. Bin seit kurz nach halb fünf auf. Sind die Exposés geschrieben und habe ich Cello geübt, nehme ich mir nun also wieder die BAMBERGER ELEGIEN vor; DER ENGEL ORDNUNGEN dürfte übers Netzwerk nach Jerusalem gegangen sein; nun heißt es, für mich, zu warten.

8.01 Uhr:
[Arbeitswohnung. Bruckner, Messe d-moll (Cass.-„Projekt“ Nr. 79).]
Am Schreibtisch. Jede Menge Texte sind im >>>> Virtuellen Seminar zu lektorieren, ich hab schon Am Terrarium damit begonnen; immerhin wird am nächsten Mittwoch wieder ein reales Seminar in Heidelberg stattfinden; da sollte kein Text offenbleiben. >>>> Einer der Studenten (ich weigere mich entschieden, dieses gegenderte „Studierenden“ mitzumachen, diese seltsame Wort-Fetischisiererei, als wäre sitzenzubleiben kein Sitzenbleiben, wenn man statt dessen „man darf eine Klasse wiederholen“ sagt) hat eine spannende Frage aufgeworfen nach meiner Kritik: was s e i denn ein Gedicht? Darüber werden wir sicher lange sprechen und wohl auch streiten.

Zweierlei vergaß ich, noch wegen der >>>> Siegener Lesung zu erzählen: Zum einen die gegenüber der deutschsprachigen Gegenwartslitgeratur seltsam abfällige Bemerkung eines Professors im Anschluß an meine Rede für Ralf Schnell: „Das war sehr gut, vor allem auch ausgezeichnet formuliert. So etwas kann man von Gegenwartsautoren leider nicht rundweg so sagen.“ Ich wäre darauf eingegangen, hätte er nicht gleich weggemußt. Aber solche Bemerkungen bedürfen der Präzisierung, in ihrer jetzigen Pauschalität war die Bemerkung, soweit ich Reden von Kollegen kenne, schlichtweg falsch. Zum anderen die nun mehrseitig geäußerte Bitte, doch meine Texte auch als Hörbücher einzuspielen, sie hätten einen solchen drive, „gerade NULLGRUND“, sagte ein junger Literaturwissenschaftler, „entfesselt einen solchen rhythmischen Klangsog, daß das nahezu Slam-Qualität hat und nach Vortrag verlangt“. Plötzlich in der Slam-Ecke zu stehen, war mir spontan nicht sehr angenehm. Dann überlese man aber, entgegnete ich, die Anspielungs- und Montagestruktur. Er: „Darum müssen Sie sich nun nicht mehr kümmern. Das ist bei der Literaturwissenschaft jetzt endgültig angekommen und wird sowieso seinen Weg gehen. Da müssen Sie gar nichts mehr tun. Aber die Klangstruktur, die überliest sich beim Selberlesen, wenn man dauernd den Spuren folgt. Die will den Vortrag.“ Womit er eigentlich recht hatte und hat. Also hab ich heute morgen gleich an einen Hörbuch-Verlag geschrieben. Mal sehen. Und >>>> marebuch werde ich nächste Woche bei dem Hamburger Gespräch vorschlagen, vielleicht doch mein >>>> Notturno ins Programm zu nehmen. Die CD wird dann aber sicher teurer werden, als sie jetzt ist; dafür wird sie dann katalogisiert sein.

So, weiter. Fußbad dazu. Eine längere Fußpflegeeinheit ist angesagt. Das in Siegen bar erhaltene Honorar wird nachher sofort weggehen, es sind, incl. Krankenkasse, dringend einige Nachzahlungen zu tätigen.

15.32 Uhr:
Tiefer, sehr tiefer Mittagsschlaf; das hört mit meinem Schlafbedürfnis gar nicht auf. Immerhin habe ich heute morgen alle offenen Texte des >>>> virtuellen Seminares durchgesehen und kommentiert und war anderthalb Stunden am Cello. Dann ein leicht melancholisches Telefonat mit A., davor mit dem Profi, einfach freundschaftlich; wie werden uns heute abend – nach >>>> der Generalprobe>>>> in der Bar treffen. Da kann ich dann meinem November-Ramadan mit einem alkoholfreien Cocktail zur Seite stehen, wahrscheinlich mit einem Home.
Bevor ich in einer Stunde noch einmal ans Cello gehe, schreibe ich wenigstens mal das e i n e Exposé.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .