Arbeitsjournal. Donnerstag, der 25. Dezember 2008.

6.57 Uhr:
[Arbeitswohnung. Chopin, Nocturnes (Cass.-„Projekt“ Nr. 103).]
Latte macchiato. Bin erst um halb sieben aufgestanden; nachts las ich noch, als ich wieder hierwar, einige Zeit in „meinem“ >>>> Samarkand-Buch von Daniel Schwartz. Den Computer mochte ich nicht einschalten, ich habe gestern kein Arbeitsjournal geführt, und es hat mich nicht irritiert, daß keine Lust darauf war. Die Melancholie hält leise an.Ein Familien-Bilderbuch-Heiligabend ist es gewesen, ein wunderschöner Baum ist es immer noch, die Kinder, alle drei, waren selig bis zum Einschlafen. Die Erwachsenen waren erwachsen. Sie standen auf dem Balkon und rauchten, sie tranken beide Wein, wenigen, ruhig, es gab wenige Tränen, er ermahnte – aber zärtlich, nicht wie seine Mutter hart – zur Haltung. Dann war sie so erschöpft, daß sie um zehn auf der Couch einschlief. Er und sein Junge, einzig, blieben wach, den er um halb zwölf ins Bett schickte, noch zehn Minuten lesen ließ, dann löschte er das Licht, löschte es in der ganzen Wohnung, brachte vorher noch die Gläser in die Küche, zog im Flur seinen Mantel an >>>> und die Schuh, gab ihr, was die Schlafende nicht merkte, einen Kuß auf die Stirn, halfterte sein Cello und ging durch die Nacht ins Arbeitsreich, das wartete, davon. Hörte er noch Musik? Ich habe es vergessen, es ist aber wahrscheinlicher, daß er es nicht tat; statt dessen nahm er am Schreibtisch >>>> Flavian Kurths Roman „Glücksgeschwür“ zur Hand, den ihm B. Stang gegeben hatte: „das sollten Sie lesen, S i e sollten das lesen, gerade von Ihnen wüßte ich gerne, was Sie davon halten“, doch er fand in den ersten Absatz schon nicht rein und begab sich dann d o c h wieder nach Samarkand, für die Spanne eines Glases Wein. Als es geleert, machte er sein Couchlager und las auch dort noch, etwa bis ein Uhr. Dann fiel auch er in einen Schlaf, wie ihn die Steine schlafen.

Ich bin immer noch nicht an der Steuer gewesen; das wird also schiefgehen. Ich werde ein paar Zeilen ans Finanzamt schreiben, daß ich, ‘aufgrund der neu eingetretenen Situation’ undsoweiter… Mal sehen. Die nahe Freunde haben sich alle Sorgen gemacht, ich bekam Emails, SMS’e, sogar einen Anruf, des Profis, um 21 Uhr, als ich einmal wieder neben den Zwillingskindlein lag, um sie in Schlaf zu bringen, die kleinen Hochaufgeregten, die wirklich den ganzen Abend über nicht von ihren neuen Pferdchen, auf denen sie meist saßen, gewichen waren. Und hatten so in den Baum gestaunt, als sie „der Papa“ hochgehalten, um ihnen die versteckten Erzählungen darin zu zeigen. Man denkt Sätzen nach, die, an der objektiven Situation gemessen, etwas Irrsinniges haben, nämlich etwas von dieser Schicksalhaftigkeit, über die ich immer wieder schrieb und schreibe. „Es ist auch für mich mit uns noch nicht alles vorbei.“ Jesses, was sagt man dann, wenn man doch liebt? Und wägt jedes Wort, und das noch hallt nach. Am besten, man sagt nichts, sondern lächelt und bedenkt den Satz >>>> romantisch.
Ich werde auch heute kaum arbeiten, werde um zehn wieder hinüber zum Weihnachtsfrühstück, werde versuchen, auf dem Weg dorthin Brötchen zu besorgen. Mein Junge bekam ein elektronisches Drum-Set, so daß er üben kann, ohne die Nachbarn zu stören; das Ding muß aufgebaut werden (gestern abend war er allein mit seiner >>>> Playmobil-Pyramide beschäftigt), es muß auch ein Platz dafür gefunden werden; jetzt jedenfalls kann er auch für seinen Schlagzeug-Unterricht, den er liebt, endlich üben. Wie der Tag dann weitergehen wird, weiß ich nicht. Von acht bis neun/halb zehn will mich an mein Cello, das ich wieder mitnehmen werde, um ebenfalls mit dem Buben eine halbe Stunde zu üben; wir werden einfach noch einmal die Stücke spielen, die wir gestern zusammen vor der Bescherung unter dem Weihnachtsbaum spielten. Das ging im übrigen ganz gut, ich sag ja: Familien-Bilderbuch-Heiligabend. Ein bißchen >>>> an dem Gedicht möchte ich heute morgen weiterspielen.
Allen Ihnen ein schönes Lichtfest.ANH

[Bach, Partita b-moll, Szering.]

P.S.: Und dann >>>> lese ich Lukas und erschrecke (leicht). Einmal mehr kommt mir Lukas wie der sprachmächtigste der vier Individual-Erzähler vor, wie der Dichter unter denen. Bereits >>>> Dostojewski bezog sich auf ihn. Kein anderer Romancier hat wie er auf mich gewirkt, nicht, weil er „besser“ gewesen wäre als andere Große, die mich dann später berauschten, sondern weil ich ihn so jung las und er sich dem Jüngling sofort zur Identifikation angeboten hat; seine Zerrissenheiten sind strukturell ganz ähnlich wie meine, hatte – und habe ich wieder – den Eindruck.

8.42 Uhr:
[Shekov spielt Chopin. (Cass.-„Projekt“ Nr. 104).]
Korrespondenz mit >>>> Christian Filips erledigt; es geht vor allem auch um weitere Ideen zu Neuer Musik & Literatur, außerdem um das Feature über ihn für den WDR.

2 thoughts on “Arbeitsjournal. Donnerstag, der 25. Dezember 2008.

  1. Gestern abend vom Weihnachtsessen mit Freunden zurückgekommen und zufällig auf einem Fernsehkanal das Ende eines Jesus-Films gesehen. Der Film war eher schwach. Aber dann plötzlich dieses (mir bis dahin unbekannte) Lukas-Zitat gehört. Und nachgeschlagen (merkwürdigerweise zunächst bei Johannes). Und seitdem im Kopf herumspukend.

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