Von grandioser Primitivität. Von verzweifelter Vergeblichkeit. Das Konzerthausorchester Berlin und die Berliner Singakademie mit Orff und Hartmann unter Georg Schmöhe.

Dieser Abend hätte ein Zeugnis unbeugbarer Menschlichkeit gegenüber der Barbarei werden können. Doch wurde er zu einer furchtbar bejubelten Niederlage für die Kunst, denn vor den Opfern, an denen prinzipiell nichts gutgetan werden kann, müssen wir doch schweigen. Oder wir beweinen sie, beweinen u n s: daß so etwas möglich wurde und wir so möglich s i n d.
Tränen sind das zentrale Wort in Karl Amadeus Hartmanns erster Sinfonie, dem „Versuch eines Requiems“, das noch in dieser Bezeichnung die Hilflosigkeit markiert angesichts der Disposition des Menschen-als-Masse zur schenkelschlagenden, widerlichsten Bestialität, an die kein Tier, die bestia nicht, niemals heranreicht: selbst die Begriffe versagen, wo wir den Character, der das Andere, auch und gerade wo es wehrlos ist, aus seinen Wohnungen zerrt, auf Viehwagen verlädt, erniedrigt, verstümmelt und dabei noch lacht, viehisch nennen müssen. Von solcher Viehischkeit ist Carl Orffs Carmina Burana rundweg. Sie feiert, unter den mittelalterlichen Trink- und Fickliedern nur schwerlich im Latein verborgen, alle Brutalität und allen Hohn, derer wir nur fähig sind, und gibt ihnen den stampfenden Rhythmus mordender Paraden. Das reicht bis tief in die kompositorische Struktur, deren primitiv-manipulativen Energien ein Volkstum zusammenschweißen, das mit dem Zusammenbruch Deutschlands 1945 keineswegs zu existieren aufgehört hat. Wie man gestern abend merken konnte, als eben t r o t z des zuvor aufgeführten Hartmann-Stückes der Jubel über die Carmina Burana so sehr losgebrochen ist, daß ich nur noch gehen mochte – gehen, um, wie es nach Walt Whitman bei Hartmann heißt, hinzufliehen „in Nacht, wenn keiner dich sieht, o schmelzender Ozean von Tränen“. Die Carmina Burana ist Musik für den >>>> Mob, und der Mob, gestern abend, applaudierte wie e i n Volk: einmal mehr dem simpelsten Verführer auf die Schippe gesprungen.
Das ist nicht zu verzeihen. Es ist nicht zu verzeihen, eben weil es zuvor die Hartmann-Sinfonie gegeben hat. Aber es war, und das ist erschütternd, zu erwarten gewesen und muß insofern schon der Dramaturgie der Veranstaltung, also den Veranstaltern, angelastet werden. Weshalb hat keiner von denen gesagt: um der Menschlichkeit willen, das geht so nicht?:: Die Leute werden den Hartmann keine halbe Stunde später völlig vergessen haben und werden innerlich mitstampfen und mitjohlen, ihnen wird alle Differenz, die es derart überdeutlich sowohl kompositorisch wie in der nicht einmal politischen, sondern menschlichen Haltung beider Werke gibt, innerhalb weniger Takte restlos verloren gehen, und daran möcht’ ich nicht mitschuldig werden? Nicht, daß Orff nicht Einfälle gehabt hätte, nicht, daß es nicht hie und da den Ansatz eines Melos gäbe, der es wert ist – auch wenn er dann immer an etwas anderes erinnert als einen neuen hören läßt: mittelalterlichen Gesang, Volksgesang, selten auch frühen Verdi -; nicht, daß die Carmina Burana nicht auch voll einer wenngleich vulgären Rhythmik wäre, die mitreißt – doch ist das eben von solch primitiver Machart, daß man gar nicht drüber schreiben möchte. Letztlich ist die Carmina Burana faschistischer Pop.
Dennoch, die Idee, die beiden Stücke zu koppeln, ist fulminant. Ach, es hätte ein solch großer Abend werden können! Wem fiel nur diese Pause ein? Und wem, den Hartmann sozusagen als „Vor-Group“ zu positionieren, damit hinterher das „Eigentliche“ zur begeisterten Erscheinung fände, ja sich zur inneren Erfüllung einer vergessensdurstigen Massendynamik durchstampfen könne? Es ist etwas anderes, die Camina Burana für sich, sagen wir: auf einer demokratisierten >>>> Dietrich-Eckart-Bühne, als Element des modernen kapitalistischen Showbusiness zu geben und in den Beliebigkeiten eines veranstalteten Entertainments letztlich aufzulösen, als wenn man den tatsächlich grundlegenden politischen, das ist hier alleine: moralischen Boden zugleich ins Bewußtsein bringen und dann umgehend wieder vergessen läßt. Gewiß steckte keine politische Absicht dahinter, eher ein auf die Begehrnisse von Abonnentenpublikum taktierendes Kalkül. Aber es nährt genau diejenige unbewußte Abwehr, die noch lange nach dem Unheil nicht wenige Mitläufer dieses Unheils mit Bundesverdienstkreuzen nobilitiert hat. Carl Orff, von den Nationalsozialisten schließlich gefeiert, blieb das auch nach dem Zusammenbruch der zwölf furchtbaren eintausend Jahre; Karl Amadeus Hartmann, der feine, der trauernde, der widerständige, ist bis heute, letztlich, vergessen, zumindest dem „Volk“: das hat den Orff der Urständ’ lieber.
Es hätte ein solcher Abend der Menschlichkeit werden können – und also der Kunst. Ja, es war ein g u t e r Einfall, die beiden Stücke zu koppeln, a b e r: wieso diese Mutlosigkeit? Wieso nicht e r s t den Orff herumlärmen lassen, und die Leute jubeln dann, und d a n n: ja dann den Hartmann spielen, als einen Einspruch derer, die in den Taschen die Hände ballten wie Kästner und erschüttert heimgingen, weil sie unter den Aufmärschen hindurch die klagende Stimme gehört hatten, mit der den Elenden, den „verzehrten Leiber“n (Whitman) Trost zugerufen würde? Und weshalb nicht auf eine Pause überhaupt verzichten – und auf eine Zäsur zwischen Orffs Carmina Burana und Hartmanns Versuch eines Requiems? D a s wäre es gewesen! Mit riesigem Bombast brüllt der Orff sich aus: mecum omnes plangite! – das r u f t ja schon nach Hartmann, und der dann, attacca, dissonant geballt und aggressiv im Rhythmus des Schlagwerks, zerfetzt, wie der Krieg, der dann kam, den Jubel der Massen, um einer Trauer Raum zu schaffen, die für das Mitleid aus der Menschlichkeit steht… – Wir alle hätten begriffen und, vor allem, es gefühlt. S o aber hat gestern abend die Rohheit wiedergesiegt.

[Wiederholung des Konzertes heute abend.
>>>> Karten.]

6 thoughts on “Von grandioser Primitivität. Von verzweifelter Vergeblichkeit. Das Konzerthausorchester Berlin und die Berliner Singakademie mit Orff und Hartmann unter Georg Schmöhe.

  1. Von grandioser Primitivität. Von verzweifelter Vergeblichkeit. Das Konzerthausorchester Berlin und die Berliner Singakademie mit Orff und Hartmann unter Georg Schmöhe. In den Augen des Kritikers gehöre ich zum primitiven Teil der Menschheit. Aber ich empfand das Konzert anders: nach der Trauer und dem ewigen Beweinen geht das Leben jubelnd seinen normalen Gang. Es geht weiter, o fortuna! Und wenn wir Orff als Faschist bezeichnen wollen, dann sollte man Wagner ebenso anprangern.

    1. @andre dietrich. 1) Die Abwehr von Trauer, das von Ihnen so gewertete “ewige Beweinen” von 6 Millionen Ermordeten – bereits “ermordet” ist ein heftiger Euphemismus für die industriehaft durchgeführten Liquidationen – scheint mir sehr typisch zu sein und das Ergebnis einer wirklich nie stattgefundenen tatsächlichen Trauerarbeit; wobei ich die Millionen Kriegstoten des Zweiten Weltkriegs noch ganz außer acht lasse: daß das Leben darüber “seinen normalen Gang” gehen solle, hat für mich etwas Unerträgliches, auch wenn das de facto so ist und wohl auch sein muß; dazu aber jubelnd zu schreiben und den Jubel zu begrüßen, empfinde ich als höhnisch. Tatsächlich, auf das Konzert bezogen, ist der Gang der Dinge aber ein anderer gewesen, wobei sich meine Kritik vor allem auch auf die massenstampfende Primitivität der Partitur bezieht, der eine ganz anders geartete entgegengestellt worden ist.
      2) Zum Fall Wagner ist vielerlei schon geschrieben worden, auch von mir; daß er Antisemit war, steht für mich völlig außer Frage; das war Luther allerdings auch (“Schlagt sie nieder wie die Ratten”: protestantischer O-Ton). Sie werden darüber hinaus wissen, daß Wagners Antisemitismus seltsamerweise dort endete, wo es um Besetzung seiner Werke ging: die Uraufführung ausgerechnet des Parsifals vertraute er Levi an. Hiervon abgesehen, läßt sich selbst aus einem “glühenden” Antisemitismus noch immer nicht ableiten, jemand wäre Faschist geworden – das war Wagner schon aus Gründen der historischen Abfolge nicht, und o b er einer geworden wäre, weiß keiner wirklich zu sagen; eine solche Art des Anprangerns wäre rein hypothetisch. Es gibt, unter anderem in Ernst Bloch, Stimmen, die das nicht glauben. Man darf auch Wagners Rolle 1848 nicht aus den Augen verlieren – abgesehen davon, daß sich aus einem Antisemitismus allein noch immer nicht beglaubigt sagen läßt, daß selbst ein Mensch, von dem Liszt berechtigt ausrief “welch schlechter Charakter in solchem Genie!”, wäre mit Massenvernichtungen einverstanden gewesen.
      Doch auch dieses noch beiseite, besteht ein grundlegender Unterschied zwischen Orff und Wagner im musikalischen Können; hier wäre allenfalls Richard Strauss – Mitläufer wie Orff, und an bedeutenderer Stelle – in die Diskussion zu bringen; nur sind dessen Partituren eben nicht primitiv, sondern im Gegenteil: anders als mit Orffs brutalen Vulgaritäten ist mit Straussens Konversationsstücken sicherlich kein Krieg, geschweige stechschrittig, zu führen gewesen, und ein “gesundes Volksempfinden”, das auf Auslöschung des Individuellen aus ist, wird mit ihnen schon gar nicht genährt.

  2. Allein die historische Reihenfolge… Also, ich bezeichne mich jetzt mal als Laie… was Musik betrifft, aber ich verspüre immer den Drang, wenn ich beginne, mich mit einem Komponisten oder Dichter zu beschäftigen, mehr über die Ges(ch)ichte dieser zu erfahren. Somit weiß ich um den Hintergrund von Hartmann und von Orff. Auch die jeweiligen Texte in ihren Übersetzungen kenne ich sehr gut. Ich wäre niemals in ein Konzert gegangen, in dem zuerst Hartmann und dann Orff gespielt wird, ich hätte mir sicherlich Hartmann angehört, und wäre dann gegangen.

    Ich setz >>> diesen Link darunter… mit Augenmerk auf die letzten drei Seiten.

    Eine Sequenz aus Whitmans Grashalmen:

    Im Schlaf um Mitternacht

    Von manchem Gesicht in Seelennot,
    Von dem ersten Blick aus den Augen tödlich Getroffener,
    Diesem ersten unbeschreiblichen Blick! –
    Von den Toten, die mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken liegen,
    Träume ich, träume ich
    Im Schlaf um Mitternacht.

    Von Wäldern, Feldern und Bergen,
    Von sturmzerrissenen Wolken,
    Vom Mond, der märchenhell schimmerte,
    Wo wir die Schanzen und die Schanzkörbe aufwarfen
    In schweigender Arbeit,
    Träume ich, träume, träume …
    Lange sind sie dahin,
    Gesichter und Schanzen und Felder,
    Wo ich im Schlachtgetümmel
    Mit gelassener Ruhe zu den Verwundeten trat,
    Und weg von den Toten.
    Vorwärts eilte ich damals – doch jetzt erscheinen sie wieder zur Nachtzeit,
    Wenn ich träume, träume, träume …

    Eine Sequenz aus Carmina Burana

    12. Der gebratene Schwan singt

    Einst schwamm ich auf den Seen umher,
    Einst lebte ich und war schön,
    Als ich ein Schwan noch war.
    Armer, armer!
    Nun so schwarz
    Und so arg verbrannt!
    Es dreht und wendet mich der Koch.
    Das Feuer brennt mich sehr.
    Nun setzt mich vor der Speisemeister.
    Armer, armer!
    Nun so schwarz
    Und so arg verbrannt!
    Jetzt liege ich auf der Schüssel
    Und kann nicht mehr fliegen,
    Sehe bleckende Zähne um mich her!
    Armer, armer!
    Nun so schwarz
    Und so arg verbrannt!

    Hier >> der Text des dazu herausgegebenen Programmheftes, schon allein die Überschriften hätten ins Auge und ins Hirn springen müssen. Sicherlich war das als Konfrontation gedacht, aber da hat jemand nicht zurück-, nicht vor- und auch nicht nachgedacht. Die “1. Sinfonie” von Hartmann wurde 1955*, also n a c h dem Krieg uraufgeführt, diese allein schon historische Reihenfolge hätte man, und auch gerade vor dem Hintergrund von Geschichte, einhalten müssen.

    *Edit: 1948 Uraufführung als symphonisches Fragment von Radio Frankfurt, 1957 Uraufführung der 1. Sinfonie in Wien.

  3. Danke für diesen Beitrag, der zeigt, dass wir von “intelligenten” Konzertprogrammen oft noch meilenweit entfernt sind. Nur zwei Beispiele aus alter Wuppertaler Zeit: Peter Gülke koppelte Schönbergs “Überlebenden aus Warschau” ohne Pause mit Beethovens 9. – an ein weiteres Konzert kann ich mich erinnern, in welchem vermutlich aus technischen Gründen (Herr Frantz war möglicherweise zu Beginn des Konzertes noch unpässlich…) das Beethoven-Klavierkonzert spontan auf den zweiten Konzertteil verschoben wurde. Auf diese Weise wurden die Abonnenten gezwungen, sich eine Pettersson-Sinfonie anzuhören, auf die sie möglicherweise im ursprünglichen Fall (Pause = Abgang) verzichtet hätten… – ich kann mich an tumultöse Leserbriefseiten in der Lokalpresse erinnern…

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