Über die Beliebigkeit. Rede an die Gebildeten unter ihren Verächtern

Will man heute Lyrik loben, dann attestiert man ihr zuallererst, sie sei präzise, genau gearbeitet, nichts an ihr sei beliebig, bleibt sie dabei gelegentlich auch rätselhaft vage und im Dunkeln. Eins scheint gewiss: Dichtung, die den Namen verdient, hat mit Präzision aus dem Licht gerückt, was immer dem Leser undurchsichtig erscheint.
Woher nur, frage ich mich, nimmt man diese Gewissheit? Und ist es eigentlich ein Lob, wenn man der Literatur die Unfehlbarkeit eines Präzisionsuhrwerks bescheinigt?
Ganz sicher sind die Moden heute andre, was mit Recht und Einfalt einmal »ein schöner Augusttag des Jahres 1913« genannt werden durfte, warf schon im ‘Mann ohne Eigenschaften’ den Schatten jener Welterzeugungsweise voraus, die das Licht der Aufklärung nicht nur mit dem Auge des Malers wiedergab, sondern mit dem Verstand des Physikers brach. Die Verwirrungen, die sich aus der Phänomenologie der Erkenntnis ergaben, man könne sich der Erscheinungen allein als intim erfahrene nicht mehr sicher sein, halten bis heute an und Künstler wie Wissenschaftler in Arbeit.
Robert Musil war es dann auch, der meine Zweifel an der Sprachgenauigkeitspflicht weiter schürte:
»Wir sprechen alle so wie der Versammlungsredner, der sagt: ‚Aber wenn wir diese Basis betrachten’, oder: ‚Wir lassen uns den Horizont, auf dem wir stehen, nicht zerreißen!’ Man versteht ihn recht gut, auch wenn er nicht weiß, was er redet. […] Offenbar besteht das Grundphänomen der Sprache darin, daß einer eilig auf etwas aufmerksam machen will, das er weiß oder fühlt, wofür ihm nun das komplizierteste System von Tasten und Hebeln zur Verfügung steht, das je einen Menschen unsicher gemacht hat; es ist ähnlich rätselhaft wie ein Klavier, aber wenn einer mit der Faust in ein Klavier haut, so wissen wir sofort ungefähr, was er meint, auch ohne nachsehen zu müssen, wohin er gezielt hat. Man darf also nicht glauben, daß etwas richtig gesagt werden müsse, damit es richtig verstanden werden könne; und darauf beruht das Geheimnis der lebendigen Sprache.«
Ja, möchte man einwenden, aber muss sich nicht gerade darum die Literatur ganz anders verhalten? Lesen wir weiter:
»Fürchterlich ist es, wenn man zum Gegenteil gezwungen wird, und nur schlechte Schriftsteller nötigen den Leser, auf jedes ihrer Worte acht zu haben. Er bemerkt dann sofort, daß er in achtzig von hundert Fällen nicht die geringste Ahnung hat, warum gerade diese Worte dastehen, und findet eine solche Ausdrucksweise mit Recht unklar. Besonders lästig sind dabei die kleinen Worte und die Wahl ihres Platzes. Ein guter Schriftsteller aber wird es immer verstehn, so zu schreiben, daß man alle seine Worte verstellen könnte, und auch durch ähnliche ersetzen, ohne daß sich der Sinn ändert; das erleichtert die Aufmersamkeit und entspricht dem modernen Prinzip, Ersatzteile herzustellen, die überall erhältlich sein müssen.«
Kann das denn ernst gemeint sein? Spricht hier nicht der Ironiker? Scheint uns nicht intuitiv das Gegenteil wahr? Zumal bei einem Schriftsteller wie es keinen zweiten gab. Und doch.

Katastrophisches türmt sich so in Babel auf und für eine eher sparsam verwortete Gattung wie die Lyrik möchte man sich gar nicht ausmalen, was es hieße, wenn die wenigen Worte nicht alles Gewicht zu stemmen hätten, wenn bei diesen fragilen Sprachgebäuden, wo jedem Morphem eine tragende Funktion zukommen kann, nicht die ganze schwebende Last auf zierlichen Karyatiden ruhte.

Schweifen wir kurz ab: gerade wurde wieder der Leonce-und-Lena-Preis vergeben, der wichtigste Preis für deutschsprachige Lyrik und Dichter in den besten Jahren, möchte man glauben. Vor einiger Zeit erhielt auch ich ihn. Halb. Und man bescheinigte mir in der Begründung ein »hochkomplexes lyrisches Sprechen, das zeigt, was Lyrik zuallererst ist: ein schönes Spracherweiterungsprogramm.«
Ich fühlte mich auch nur halb gelobt, da ich glaubte, dieser Ausdrucksweise mangele es an Präzision, oder eher an einer Idee von dem, was ich meinte, mit meinen Gedichten verfasst zu haben. Ich dachte – wohl auch, weil ich zu den Menschen zähle, die die Welt als tendenziell gegen sich gerichtet empfinden, selbst wenn man ihnen wohl will – ich hätte bloß einen Gedichtgenerator erfunden, ein »schönes Spracherweiterungsprogramm«, das ganz einzigartige Worte erfindet. Wobei mir selbst doch die Worte, sind sie einmal ge- oder erfunden, eine zu vernachlässigende Größe scheinen.
Ist das jetzt nicht Koketterie, so ist es schiere Dummheit, möchten Sie einwenden?
Ich kann mir nur nicht helfen, ich empfinde es so, wenn ich lese, wenn ich schreibe. Ich denke immerzu an die Funktion, die Form interessiert mich nur insofern, als dass sie einem übergeordneten Ziel zustrebt, das ich selbst nicht kenne, geschweige denn wüßte, ob es überhaupt existiert.
Das finden Sie jetzt mit Recht unklar. Doch ich ahne, wenn ich versuche, es Ihnen mit Hilfe einer Sprache zu erklären, die Dichter wie Leser teilen, komme ich nicht wesentlich weiter.
Wenn ich Ihnen doch als Dichterin von Dichtung wie der Physiker vom Licht auch als Wellen und Teilchen sprechen könnte, wäre uns beiden damit geholfen? Sie glauben nicht? Ich auch nicht.
Ich glaube, dass wir zwar mit dem Recht der Gewohnheit annehmen, dass Fachsprachen auch Sprachen im intuitiven Sinne seien, doch dabei übersehen, um wie viel mehr noch als Literatur sie einem Funktionscharakter verpflichtet sind, der außerhalb ihrer und nicht in ihnen selbst begründet liegt. Will sagen, wenn wir mit unserem Alltagsverständnis der Sprache jene Fachausdrücke im dichterischen Zugriff ihrer Sprechwelt entwenden und in unsere überführen, entsteht zwangsläufig das mehrdeutig Schillernde, doch das Exakte ihrer Wissenschaft bleibt uns auf diese Weise weiterhin verborgen. Daraus folgt: Literatur ist etwas anderes als exakte Wissenschaft. Wir wissen das und doch wissen wir auch, dass dem Exakten etwas anhaftet, womit sich Literatur gut und gerne loben lässt. Vielleicht, weil wir glauben, ihr Stern ist im Sinken und die Astronomen entreissen uns sonst ganz das Firmament. Mit der Tarnkappe der Genauigkeit buhlen wir um die Aufmerksamkeit einer Gesellschaft, die sich nichts vormachen lassen, sondern genau wissen will, wie der Hase läuft. Nämlich gerade so, dass ihn zwei Igel immer noch auszutricksen verstehen.

3 thoughts on “Über die Beliebigkeit. Rede an die Gebildeten unter ihren Verächtern

  1. gerade “gerade wurde wieder der Leonce-und-Lena-Preis vergeben, der wichtigste Preis für deutschsprachige Lyrik und Dichter in den besten Jahren”

    gerade erst zwei Jahre her. Die nächste Preisverleihung ist am 21. 03. 2009. Alter Text diese Rede?

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