Arbeitsjournal. Sonnabend, der 11. April 2009.

8.48 Uhr:
[Arbeitswohnung. Tschemberdji, Christus-Fragmente.]
Sitze an der Steuer und überspiele dabei den DAT-Mitschnitt des Karfreitagskonzertes von gestern abend. Mir ist nach Kirchenmusik. Tschemberdjis Komposition klingt in der Aufnahme n o c h intensiver, ein Eindruck, den ich sehr oft bekomme, wenn das Bild wegfällt; Bilderverbote haben wohl nicht n u r Machtgründe, sie konzentrieren aufs Wesentliche – kann man sich vorstellen, daß es ein Klangverbot gebe, verbunden mit dem ausschließlichen G ebot des Bildes? wäre das das L i c h t? Sprechverbote g i b t es, als Selbstverbot/Gelübde. – Sehr schön jetzt, wie auf Tschemberdji direkt der Bach folgt.
Stoisch vor mich hinarbeiten. Der Profi gestern: „Wie machst du das? Mit Exel?“ „Damit kann ich nicht umgehen.“ „Aber das ist doch so leicht!“ Nein, kann ich nicht; ich habe sämtliche Buchhaltungsprogramme bei mir vom Laptop gelöscht, sie machen mich krank, schon allein, daß ich überhaupt Zahlen eintippen soll… Besser, ich tippe alles mit Worterklärungen. Sollen die beim Finanzamt dann sehen, wie sie damit klarkommen. Auf keinen Fall Schablonen. – Egal. Keine Zeit jetzt. Stoisch weitermachen. Ich werd mich heute durch Sophia Gubaidulina durchhören, meine Passion, Steuer zu Karfreitag. Hat aber auch was Komisches. Es wurde mein Leblang nicht anders. Es ist eine instinktive, geradezu phylogenetische Abneigung dagegen, mein Leben zu rechnen. Ich denke manchmal, was soll’s?: wenn ich sterbe, müssen die Leute meine Posten ja d o c h ausbuchen – völlig schnuppe, was dann da noch steht. – Nein, machen Sie sich bloß keine Sorgen. Auf sowas komm ich i m m e r, wenn ich mit Buchhaltung zu tun kriege. Ist die Buchhaltung wieder „weg“, klopf ich mir den Depressionsstaub von den Klamotten, grinse und laufe, aufgeregt vor Neugier, dem nächsten wahren Erlebnis entgegen.

10.09 Uhr:
[Gubaidulina, Offertorium – Konzert für Violine und Orchester.]
Von Cellini:Oh… ANH, Sie machen sich das Leben aber manchmal selbst schwer. Wenn Sie selbst Ihr Leben nicht rechnen wollen, dann lassen Sie das ein Programm machen. Sie brauchen doch nur im Excel die Zellen mit den Werten zu füllen, und die Summe zu bilden. Sie klicken die oberste mit Werten gefüllte Zelle an, ziehen die Maus runter, inklusive einer leeren darunter befindlichen Zelle, klicken auf das Summensymbol und haben einen addierten Wert in der vorher leeren Zelle stehen. Bei der Subtraktion, ganz einfach… eine leere Zelle anklicken, das Symbol = eingeben, dann auf die erste Zelle mit dem Ausgangswert klicken, ein Minus einfügen, dann auf die nächste Zelle mit dem Wert klicken, der abgezogen werden soll, enter.. und gut is.An Cellini:Nee, ich weiß ja nicht mal, wie man das a n l e g t. Und das kann und w i l l ich jetzt – und nie – nicht auch noch lernen. Es kostet Lebenszeit. Die habe ich für sowas nicht und w i l l sie dafür nicht haben. Ich schreibe meine Steuererklärung als durchlaufenden doc-Text, werfe je die Beträge aus, erkläre jeden oder fast jeden, und bilde dann Summen. Den Rest soll das Finanzamt machen.
Vieles m u ß auch erklärt werden, zum Beispiel, daß mal Mietzahlungen auftauchen, mal nicht, weil ich die manchmal bar bezahlt habe, manchmal haben Freunde sie bezahlt und das Geld dann bar zurückbekommen usw. Zudem sammle ich darüber oft keine Belege oder werfe die Quittungen schlicht weg. Es ist also a l l e s ungeordnet. Ich habe finanziell kein geordnetes Leben mehr, seit *** sich damals von mir getrennt hat, so einfach und so kompliziert ist das. Die einzige Ordnung, auf die ich achte, ist, daß mein Junge versorgt ist und daß ich mit meiner Arbeit vorankomme. Kann sein, daß das Finanzamt das nicht anerkennt und dann halt pfänden kommt. Soll es. Ich renne eh in den Privatkonkurs, aber auch ohne den wäre es mir wurscht. Ich w i l l keine Zeit für Buchhaltung aufwenden, was ich jetzt hier mache, ist reine Passionszeit, aber die geht vorüber. Nach mir die Sintflut.

Schön aber, >>>> s e h r schön, was Sie über das Konzert gestern schrieben. So etwas ist wichtig, alles andere ist von absoluter Nebensächlichkeit.

Nachtrag:
Ich hab unsern Emailwechsel zu Exel eben ins Arbeitsjournal gestellt, nicht indiskreterweise, sondern weil es ein weiterer Beleg für meine Grundhaltung ist gegenüber staatlichen “Verpflichtungen”. Mir wird gerade klar, daß es sich um eine zwar vielleicht unreife, aber auf jeden Fall hartnäckäckige Form von Verweigerung handelt – um ein weiteres Prinzip meines “Anti-Realismus”.

Ich will nicht pragmatisch sein. Ich will keinen Pragmatismus in meinem Leben haben, weil ich ihn als Kapitulation empfinde.

10.48 Uhr:
Könnte ich komponieren und wär schon auf dem Cello weiter, ich gäbe meine Steuererklärung als Konzert ab. Die Leute dürften zuhören, damit wäre meine „Schuld“ abgegolten, meinethalben einmal pro Jahr. Oder ich schreibe statt der Steuererklärung eine Erzählung und gebe die Rechte völlig ans Finanzamt ab statt der Steuererklärung.

11.38 Uhr:
[Gubaidulina, Gesang der Sonne.]
Steuermüll ff., hab noch nicht mal was gegessen, sollte ich gleich tun. Auch Wein ist noch zu besorgen. Ans Cello komme ich heute nicht, wenn ich mit dem Steuerscheiß durchkommen will, bevor mein Junge und ich am Dienstag nach Bamberg reisen; auch den Mittagsschlaf kann ich knicken, aber ich bin ja eh mal wieder zu spät hoch: alles eine einzige Fluchtbewegung. Doch die Musik hilft heute, sie hat was ergebenMachendes, besänftigt die permanenten Aufwallungen von Ekel und Zorn, die dieser Buchhaltung wegen immer mal wieder in mir aufsteigen wollen.

13.35 Uhr:
[Gubaidulina, stimmen verstummen…]
Vor lauter Steuerkram immer noch nichts gegessen, das muß ich jetzt mal ändern. Das Cello schreib ich wirklich ab für heute. Was für ein elender Scheiß! Erniedrigender geht es nicht. Ich würde in akutem Kriegsgebiet Sanitätsdienste machen, gerne, s e h r gerne, ich würde Latrinen reinigen, auch das, aber will mich nicht von diesen Buchhaltungsentsetznissen demütigen lassen! Es ist das Widerlichste, das es überhaupt gibt. Die Musik hält mich aber ruhig, nur wenn ich an was anderes denke oder realisiere, welch geistunwürdiges Zeug ich hier tue, steigt mir die Galle.

14.27 Uhr:
Sowas ist wiederum absolut süß; kein Exel und kein sonstiges Normprogramm würde mir erlauben, so etwas so den Finanzämtlern mitzuteilen; jetzt steht’s bei mir in der Abrechnung d r i n:Amex-Rückzahlung (mit Zinsen):
Belege L
Der Kredit ist dann geplatzt, das hat zu einem Titel und im Februar 2007
schließlich zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung zwecks Offenbarung des
„Vermögens“ geführt.
Danach schreib ich das gleiche für die Dresdner und die cc-Bank. Ha! (In den Kontoauszügen ist richtig hübsch nachzuvollziehen, wie in fast exponentieller Folge Überweisungen mangels Deckung nicht ausgeführt wurden, das macht ein richtiges Gerumpel – bis man die Kündigung der Konten direkt schon hört. Damit puffen dann natürlich auch die Kredite in sich zusammen, deren Tilgung nicht mehr bedient werden kann. Irgendwie ist das auch wieder ein grandioses Schauspiel. Danach geht die Verwirrung so richtig los, sowas ab Mitte 2007, wenn ich prinzipiell nur noch über Konten von Freunden „handle“ oder gar zum Barverkehr zurückkehre. Hat was von einem Lehrstück.)

6 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonnabend, der 11. April 2009.

  1. Ich fragte mich gerade während des Lesens, wie Du das seinerzeit als Broker gehandhabt hast – wo es dort doch nur um Zahlen geht (neben der Fiktion, natürlich)… oder? lächelt

    1. @Titania. Ach weißt Du, ich habe damals derart viel verdient, daß ich alles, was mit Buchhaltung zu tun hatte, weiterreichen konnte; abgesehen von den Bewirtungen, bei denen ich vorher auf jede Quittung den/die Bewirteten draufschreiben mußte, was ich selbstverständlich einsah, steckte ich monatlich die Quittungen ungeordnet in einen Umschlag und schickte sie meinem seinerzeitigen Steuerberater. Was die Posten “meiner” Marktpositionen anbelangte, ging das Zeug immer sofort ins Backoffice.
      Es sind ja auch nicht die Zahlen – Mathe mach ich sogar recht gerne -, sondern es ist der Stumpfsinn reiner Additions-/Subtraktionskolonnen, die mein Leben gegenrechnen, was mich so nervt. Abgesehen davon war ich als Broker ja angestellt, nicht etwa selbständig; so ging monatlich eh immer die Steuer automatisch weg, und der Steuerberater holte jährlich zurück, was zuviel bezahlt worden war. Davon sah ich nie viel, denn er war teuer, schon weil er meinen Mist ordnen mußte. Aber das war mir sowas von schnuppe.
      Aus dem halben Jahr meiner Selbständigkeit als sagen wir Warentermin-“Drücker”, das der Festanstellung vorausging, hab ich bis heute Steuerschulden, schlicht deshalb, weil ich in dem halben Jahr gewerblich veranschlagt war, mich damit nicht auskannte und auch nicht auskennen wollte (und immer noch nicht auskennen will) und den Steuerberater da noch nicht kannte. Kurz: Mir wäre es lieber, ich bekäme als Einnahme sowieso nur immer den Betrag n a c h Steuer; dieses Herumwinden und da noch was geltend machen und dort, diese ganzen Ticksereien, auf dem unser Steuersystem aufgebaut ist, sind mir rein zuwider. Dazu kommt, daß ich zwar absolut einsehe, daß Steuern bezahlt werden müssen, um Schulen zu bauen, Lehrer zu bezahlen, Krankenhäuser in Betrieb zu nehmen, die Straßen befahrbar zu halten, die Künste und Künstler zu finanzieren usw., nicht aber, daß militärische Einsätze in Afghanistan damit bezahlt werden, gegen die ich bin. Schon, daß ich mit meinen Steuern überhaupt ein Militär mitfinanziere, geht mir eigentlich gegen den Strich. Obwohl ich ja kein Pazifist bin. Ich will aber das System von Herrschaft und Gehorsam nicht mitfinanzieren, das die Soldaten Befehlsketten internalisieren läßt. Aber das ist jetzt ein anderes Thema.

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