Arbeitsjournal. Montag, der 4. Mai 2009.

7.44 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Verpennt. Eben erst auf, um halb acht, aus einem Traum, von dem ich nüschts mehr weiß. Latte macchiato, einzwei Zigaretten. Zusammenpacken: Unterlagen, Laptop. Ab zum Finanzamt, ziemlich bärtig Bach im Ohr, aber ‘n neues weißes Hemd übergeworfen.Wie man’s in Indien trägt. Heute vor zwölf Jahren kam mein Bruder um. Er war anderthalb Jahre jünger als ich. An ihn mal eben hochgedacht.

9.46 Uhr:
Zurück, zweiter latte macchiato. Mir wär auch schon nach einem Malt. Klaro, das laß ich sein. Zwischendurch auch geflucht: Media Max macht erst um zehn auf. Ich fuhr nach dem Finanzamt hin. Was ‘ne Unsitte da eingerissen ist mit diesen dauernd späten Öffenungszeiten, anstatt daß die um sieben öffnen und dafür drei Stunden mittag machen. Egal. Unverrichteterdinge hierher. Ich wollte den Bartschneider umtauschen, den ich noch am Sonnabend für so wenig Geld gekauft hatte, daß es kein Wunder ist, eigentlich, wenn er nicht funktioniert und ich nun wie ein Seewolf rumlauf. Also gleich wieder los. Dann den Bart kurzschneiden, dito das Kopf-, na ja, -„haar“, Hoden und Achselhöhlen rasieren, gefiel mir g a r nicht gestern, so mit den Stoppeln nackischt am See, zumal haben Frauen wie Männer höchst ungern Haare im Mund. Sò.
(Die junge Finanzbeamtin, die ich mit ungewissem Recht nun „meine“ nennen darf, war freundlich, freundlich auch die beidseitigen BH-Spitzen, die um den Golf der Brüste leuchteten, also des Auschnitts, darin die Wogen zweier Mittelmeere: so glatt und lockend und, wie Goethe sich die Antike vorgestellt hat: dezent. Ihre ältere Kollegin eher bitter; es mag aber sein, daß sie lernen mußte, es sei geraten, sich „Kunden“ gegenüber distanziert zu verhalten; unser Steuersystem verlangt ja den Betrug, ihre Controller sollen ihn aber entlarven: so etwas f o r m t. Deshalb mag es unklug von mir gewesen sein, der Jüngeren die >>>> ENGEL dazulassen („…. weil Sie mir helfen, weil ich allein mit diesen ganzen Zahlen nie klarkomme, aber keinen Steuerberater mehr bezahlen kann“); sie warf der Älteren einen kurzen unsicheren Blick zu: ist das jetzt Bestechung? So meinte ich es selbstverständlich nicht, sondern meinte es innig-ehrlich, weil mir jemand dieses pieksende Zeug aus dem Nacken nimmt.

Und wieder >>>> zum Pop. Nachgedacht. Es ist wohl wirklich so, wie mit den jungen Israeli, die Israel w i r k l i c h als ihre Heimat fühlen, und mit einem Recht, dem es ganz egal ist und sein muß, ob das Land eigentlich okkupiert worden, ob es das Ergebnis eines Völkerechtsvergehens, so u n d so, ist. Meine Generation, die Generation vor mir und alle danach sind vom Pop g e p r ä g t worden, wir sind ja nicht frei, sondern Reaktionsmuster, wir sind programmiert worden, auch ich, klar, nur ich eben anders aufgrund von Umständen, die ich so wenig zu verteten habe, wie jemand anderes sie zu vertreten hat. Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, sich von den Prägungen freizumachen; ich schaffe es selbst nicht, die Pop-Leute schaffen es nicht, und so sprechen wir aus völlig verschiedenen Welten; nur daß auf Seiten der Pop-Leute die M a c h t ist, industrielle Macht mit allen Schatten- und Schlammseiten des Kapitalismus: brutal auf Verdrängung aus, gefüttert von der Ideologie einer Gleichheit, die es nie gab, und aufgepumpt mit der Religion von Freiheit, die nicht kapieren läßt, daß man uns wie Marionetten führt. Ich habe bloß das Unglück des Glücks gehabt, schon als Kind abseits zu stehen; deshalb fühle ich anders. Das hat sich nie geändert, bis heute nicht, und ist die Basis einer Fremdheit, die mich selbst von Freunden trennt, die mich lieben. In der Tat bin ich wie ein Fremdkörper im Getriebe; nur mein Vitalismus, mein Lebenshunger, meine Lust an Leidenschaft und Übertretung – kurz: an der W e l t schützen mich vor Depressionen. Jedenfalls meistens.
In dieser ganzen Diskussion geht es letztlich nicht um rationales Verstehen, sondern um Heimat, oder doch um das, was man für Heimat hält.

3 thoughts on “Arbeitsjournal. Montag, der 4. Mai 2009.

  1. herr herbst wenn sie schon aus persönlicher erfahrung argumentieren ( wollen ), dann meine
    noch dazugestellt.
    ich wuchs seinerzeit in einem erzkonservativen haushalt auf.
    das hiess u.a. klavierunterricht und das hiess v.a. bach und beethoven.
    ich fühlte mich – da ich leidenschaftlich gerne fussball spielte als kind – wie eine
    marionette, die man zu dem instrument schleppte, um darauffolgend als vorzeige-
    kind im angrenzenden wohnzimmer kunststückchen vorzutragen.
    glücklicherweise waren meine eltern dann aber doch ein wenig lax – das lag auch noch daran, dass ich als kind recht gut in der schule war und zudem noch anfing
    mit geräteturnen ein paar mal die woche in einer an den schulischen betrieb angeschlossennen turnerriege.
    was das musikalische anbetrifft aber fiel mir als neunjähriger ein tape von billy
    cobham in die hände und ich fuhr sofort auf diese musik ab – ziemlich poppiger
    jazzrock ( von bourroughs betextet words of advice – der basisbeat )
    in den mir selbst überlassenen stunden sass ich desöfteren mit dem ohr am lautsprecher und meditierte regelrecht in diese musik rein.
    das wurde zu meiner heimat – black music.
    ein paar jahre später las ich dann noch peter weissens ermittlung und hatte dabei
    heftigste heulkrämpfe und sagte mir, dass ich bis zu meinem letzten atemzug gegen faschismus kämpfen werde – dessen nachläufer mich irgendwie erziehen wollten.
    hätte ich irgendwann nicht angefangen zu saufen und drogen zu nehmen, wäre
    ich ein absolutes arschloch geworden : intelligent, intrigant, repressiv, verschlagen und völlig deutschfixiert.
    ohne drugs / rock- und jazzmusik / und ein paar guter freunde durch alle schichten hindurch hätte ich das nicht gepackt.

    1. übrigens herr herbst nach dem begriff stolz sind sie jetzt bei dem begriff heimat.
      vielleicht reden sie dann noch völlig verklärend vom wald wo selbst leute wie
      stoiber längst von lansschaftsdesign reden – letztere wieso ?
      weil dieser in sich verspielte sich selbst überlassene wald doch gar nicht mehr existiert – das bedauere ich als jemand der mal die natur echt schätzte irgendwie
      ( ja auch )
      herbst was ich eigentlich sagen will ist folgendes : sie werden mit ihrer schmalen,
      engen und einseitigen argumentation doch nichts gerecht.
      desweiteren teile ich auch nicht ihre argumentation betreffs der elegien.
      das wort elegie suggeriert doch fast schon unverschämt ein gefühl fast schon
      asozialer freiheit ( so konnotiere ich zumindest das wort )
      was folgt ?
      ein rhythmisch pedantischst auf ein grundschema fixiertes konstrukt, welches
      aber inhaltlich geradezu die ganze welt zu verarbeiten oder in sich einzuspannen
      sucht – das ist das drama in meinen augen, das konzept.
      dabei geht ihre teils grossartige poetik flöten – vor allem insofern sie sich mit modernem vokabular reibt, sich an solchem entwertet, nur um für meine begriffe ideologisch fungieren zu können.
      sie wollen kraft weitergeben – essentialität – vielleicht schaffen sie das streckenweise schon – aber wenn ich dann sehe, wie sie nebenher mit heimat, stolz, kollenktivem unterbewusstsein, avantgarde usw. einschmelzen versuchen,
      bin ich absolut nicht mehr dabei.
      man wird die antworten, so es sie gäbe oder gibt auf weltproblematiken nicht aus
      einer jeweiligen sprachkultur heraus finden, man muss an ihr aus allen kulturen
      heraus basteln, insofern man diese erfasst.
      ihr schlenker dann von europa in den arabischen raum hinein geht mir nicht weit genug – was so die laufenden diskussionen hier anbetrifft.

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