Arbeitsjournal. Donnerstag, der 20. Mai 2009. Mit Michael Tippett.

5.59 Uhr:
[Arbeitswohnung. Tippett, Erste Sinfonie.]
Ich dachte gerade – beim, jaja, Aufstehen -, daß alle kunstideologischen Überlegungen, bzw. solche, die an Kunst und überhaupt Kulturwerke einen anderen Anspruch stellen als nur den, daß sie seien, zugleich recht und unrecht haben. Das gilt besonders im Fall Adornos, eingeschränkter auch Blochs, aber auch in meinem. Mir kommt der Gedanke, da ich grad Tippett höre und mir bei der auffälligen Schönheit diese Musik zugleich doch klarwird, wie wenig sie sich für eine politische oder irgendwie sonst moralische, sei es vermeintliche, sei es tatsächliche Absicht vereinnahmen läßt: sie geht darin auf, daß sie „einfach gute“ Musik ist – nicht ohne bisweiligen Schmock, könnte man, wie >>>> Sumuze h i e r kritisiert, sagen, aber doch immer vornehm dabei, „britisch“ halt, und auf der Höhe des Handwerks; eben aber auch nicht nur dessen; sondern sie ist voller Einfälle, die teils tänzerisch-ironisch, teils von einer solch rhythmischen Melodik sind, daß man sich gut vorstellen kann, wie Tippett über Tage, vielleicht Wochen von ihr ausgefüllt war, bis er alles dann endlich so zu Papier gebracht hatte, wie es in ihm klang und klang. Was soll man t u n, wenn einem eine Melodie einfällt, die einfach nur schön ist, von der man aber weiß: das entspricht eigentlich nicht meinem Jahrhundert? Oder: Sie hängt selbstverständlich irgendwie an – sagen wir Beethoven, aber s o hat Beethoven sie eben nicht geschrieben, s o gab es sie nie. Sie also verwerfen? Gewiß nicht.
Das gelte jetzt nur für Musik? Sicher ebensowenig. Es gilt auch für den Reim. Es gilt sogar für bestimmte Wörter, von denen auch mein eigener innerer Ideologismus schnell zu behaupten bereit ist, sie seien „überkommen“; es gilt für ganze Formen. Insofern ist der Anspruch an ein Gedicht oder überhaupt Kunstwerk, es habe, z.B., das Nochniegehörte zu verkörpern, unangemessen. Es hat nicht einmal „das Menschliche“ zu verkörpern, nicht einmal ein Utopisches, sondern reicht für sich vollkommen hin.
Zugleich bleibt aber der Anspruch in Kraft, die Einrede, der Widerspruch, wie Adornos war, daß eine Kunst a l s Kunst sich s o zu verhalten habe, daß sie politisch nicht mehr ausnutzbar sei. Die Idee, Kunst sei eine Sprache der Menschlichkeit (Adornos Konsequenz: „Erst einer befreiten Gesellschaft stürbe Kunst ab“), b e h ä l t, trotz aller berechtigten Einwände, ihr Recht. So daß sie sich z w i s c h e n solchen Ansprüchen bewegt, z w i s c h e n ihnen „geschieht“ (gebaut ist sie ja allemal, selbst wenn man vom Gedanken der Inspiration ausgeht, an dem gleichfalls etwas ist und nicht ist).Bin sehr nachdenklich heute morgen. Das liegt wohl auch daran, daß ich mich derzeit sexuell zurückhalten muß, wenn ich nicht unfair sein will. Ich hatte parallel zur der Kunstüberlegung (selbstkritisch muß(te) ich mir einräumen, daß sie auch für meine Haltung gegenüber dem Pop gilt) auch gestern schon die Frage: Was wäre, hätte ich mich nicht nur mit einer solchen Harmlosigkeit angesteckt, wann und bei wem auch immer, sondern mir, sagen wir, AIDS zugezogen? Wie ginge ich damit um, für alle weitere Zeit meinen Lebensmotor, das nicht nur „platonisch“ Erotische, in mir dann bändigen zu müssen? Wie verhielte ich mich oder wie verhielte sich meine Rigorosität dazu? Wäre mir dann überhaupt noch möglich, künstlerisch zu arbeiten? Jeder Flirt, der sich zu mehr bewegen und schließlich explodieren will, und das w i l l in mir jeder Flirt: Realisierung, nicht Sublimation, bekäme etwas von Vorbehalt, w ä r e Vorbehalt; ich würde von der Grundbewegung des Lebens, so empfände ich das, weggeschnitten… andererseits will ich nicht, daß solche Überlegungen und Gefürchte mich vorsichtig werden lassen, denn schon in der Vorsicht steckt eine Distanz gegen Lebendigkeit; daran binden sich sofort moralische Kategorien wie Verantwortlichkeit usw.
Ich bin mir bei alledem nicht sicher.
Rückzug. Leben als Meditation. N u r noch schreiben. Sowas. Nein. Unvorstellbar.

23.08 Uhr:
[Boughton, The Immortal Hour.]
Es ist wahnsinnig schön, mit seinem eigenen Sohn ein Cello-Duo zu spielen. Auch dann, wenn es erst lange nicht klappt. Und plötzlich fängt es an zu klappen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, w e l c h ein Glück das ist, wenn man anfängt, sich von den Noten zu lösen und dann ganz plötzlich miteinander musiziert. Der Neunjährige. Der Vierundfünfzigjährige. Daß so etwas möglich ist.
Wir sahen uns danach „Der Tag, an dem die Erde stillstand“, das Remake, an. Mich beeindruckt eine bestimmte Form von Kitsch i m m e r: das Kind, das am Grab des Vaters weint, und die Stiefmutter kommt hinzu, und beide umarmen sich weinend, und der Fremde aus dem All braucht eine Sekunde, um zu begreifen, was das i s t mit dieser aggressiven Lebensform Mensch. Dazu die mitlaufende menschheitsgeschichtliche Frage der Todesstrafe: die Sintflut war ein Genozid; das wird sowas von klar (hier noch gekoppelt mit einer der P l a g en: {cyborgsche} Heuschrecken). Auch wird einem bewußt, w i e eng gerade Hitlers Eschatologie mit dem Alten Testament, also der Thora, zusammenhängt. Bloch ja hat schon deutlich auf den apokryphen Text der Johannes-Apokalypse hingewiesen; dann muß man nur noch eine moralische Kopfdrehung machen und kriegt das Grausen vor Keeenu Reeves. Dazu wiederum Syberbergs Gedanke des Brüderhasses.

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