Stefano Poda mit “Don Giovanni” in Bulgarien im Sommer 2009

Bulgarien rückt näher. Seit 2007 Mitglied der Europäischen Union, ist die Hauptstadt Sofia immer noch der bekannteste Ort des südosteuropäischen Landes. Das könnte sich bald ändern. Wenn man auf der erstklassig ausgebauten Autobahn in Richtung Schwarzes Meer fährt, sich die Ebene weitet, die Sonnenblumen im Wind wiegen, dann erreicht der Reisende nach rund 100 km die Stadt Stara Zagora. Auf einer Anhöhe gelegen weist sie eine pulsierende Innenstadt auf mit einem Kleinod im Kern, der einzigartig ist. Überreste eines Amphitheaters bilden das stimmungsvolle Ambiente für kulturelle Veranstaltungen: das antike Forum “Augusta Trajana”. Gerade genutzt für eine Neuinszenierung von Mozarts “Don Giovanni”. Stefano Poda, Regisseur, Choreograf, Lichtdesigner, künstlerisches Multitalent mit hohen Ansprüchen an sich und die Darsteller, wagte Modernes. Oder besser gesagt: Zeitloses. Die Stufen des antiken Runds nahm er als Fundament für ein klassisch einfaches Bühnenbild: eine Wand aus hellen Ziegelsteinen am hinteren Bühnenrand gebaut, verbunden mit sich lang hinstreckenden, mehrere Ebenen verbindenden Treppen bis zum original antiken Fußboden, geschickt räumliche Tiefe erzeugend. Nur etwa 100 Scheinwerfer auf verschiedenen Positionen produzierten immer neue Eindrücke, gruben Fantasie anregende Reliefs in den Stein, generierten zauberhafte Schattenwirkungen, trugen den Gehalt der Oper. Die Figur des Don Juan bildet seit Jahrhunderten Stoff für philosophische Auseinandersetzung. Mozart trug mit der Oper seinen Teil dazu bei, setzte in Töne, was sich anders nicht vermitteln lässt: das “Unsagbare”. Keiner hätte das besser gekonnt als er. Don Juan – der Mann, der aus dem Dunkel des menschlichen Bewusstseins kommt, um sich zu inkarnieren, ehe er wieder dorthin versinkt – vielleicht auch ein Teil von Mozart selbst, ein Teil des Männlichen an sich. Ein Phantom, eine Legende, die für einen Wimpernschlag real wird – auf der Bühne. Don Juan, der Getriebene, der Kommunikationsbesessene, der nicht bleiben, sich nicht verwurzeln kann, der hinter jeder Tür rücksichtslos mehr Bewusstseinserweiterung durch neue Erfahrungen ersehnt und aus dem Blick verliert, dass es davon nur ein Mehr gibt, wenn man zwischendurch verweilt, ruhig wird, ansammelt, reift, nicht sinn- und rücksichtslos erobert – denn ohne Ansammeln gibt es keine Weiterentwicklung. Für uns heute zeigt die Finanzkrise verwandte Muster: das Weiter, die Gier, dort die nach Geld – hier Don Juan auf erotischen Irrwegen, pervertiertes Ventil für Kommunikation. Stefano Poda hat all das schlüssig ins Szene gesetzt, fernab aller platt romantisierenden Interpretationen, wie sie so oft auf der Welt zu sehen waren, manchmal noch sind. Handwerklich perfekt, mit viel Kenntnis und Sinn für die Mittel des Theaters, hat er es geschafft, sie so punktgenau einzusetzen, dass eine großartige Opernaufführung entstand. Das war wirkliches Musiktheater – mit einem Regisseur, der keine Angst vor Musik hat, sondern sie versteht und mit ihr arbeitet. Hier wurde nicht nur der tiefsinnig veranlagte, philosophisch interessierte Zuschauer beglückt, sondern es wurde dem Publikum alles geboten, was man von einem kurzweiligen Opernabend erwarten kann – “die Oper lebt”! Dirigent Dian Tchobanov führte Orchester und Chor souverän und unerbittlich straff durch die Partitur. Das war echter Mozart – manch kleine Unsicherheit im Zusammenspiel – bedingt durch die Positionierung des Orchesters unsichtbar hinter einer mannshohen Wand zwischen Bühne und Publikum – hätte dem Komponisten ein hintergründiges Schmunzeln der Zufriedenheit entlockt. Zur Ouvertüre verteilten sich Balletttänzer und Tänzerinnen im steinernen Raum zwischen Bühnenaufbau und Publikum, weiß gekleitet, jungfräulich – wie überhaupt schwarz und weiß die zentralen (Un)Farben des Abends waren – schwarz und weiß für Gut und Böse. Im Verlaufe des Abends gesellten sich schwarzes Tuch hinzu, choreografisch verwendet, poetisch. Und allmählich wurden die Darsteller puppenhaft. Bezwang Don Giovanni die Frauen anfangs noch vordergründig auf dem Parkett, waren sie zum Schluss körpersteif, – so wie er – weniger denn je mit menschlicher Empfindung behaftet, nur blindes Klischee, leer, hohl. Poda spielte auf der ganzen Palette der Ausdruckskraft seiner inszenatorischen Mittel, mit viel Sinn für kleinste Details. Dafür standen ihm prachtvolle Sängerdarsteller zur Verfügung, die in der exzellenten Akustik, noch unterstützt durch Windstille, zudem unter sternenklarem Himmel, ohne Mikrofon auskamen. Stellvertretend für alle sei Vesselin Stoykov genannt, der in der Titelrolle die geforderten Fassetten und Zwischentöne zeigte. Schwarz gewandet, ein ausladend großer Hut mit feinem Federflaum geschmückt, der seine Nichtangreifbarkeit unterstrich und den er erst in seinen letzten Lebensminuten vom Kopf nahm, dann ungeschützt vor dem Tod als letztem Kommunikationspartner, alles ausgereizt. Stoykovs samtene, voluminöse Baritonstimme, flexibel geführt, in der Tiefe noch entwicklungsfähig, verbunden mit darstellerischem Talent und Feingefühl, war ideale Verkörperung der vielschichtigen Figur. Dass der 36jährige Deutsch-Bulgare zugleich Generalintendant der Oper in Stara Zagora ist, die 1991 ausbrannte und nun im Wiederaufbau begriffen ist, dass er sich dieser aufreibenden Aufgabe mit Leidenschaft und sanft-bestimmt erfolgreich widmet, ist kaum zu fassen. Schon jetzt ist bei dem Rundgang durch den fast fertig gestellten Zuschauer- und Bühnenraum die wundersame Energie zu spüren, die diesen Ort gleichsam wie einen magischen Kraftort kennzeichnet. Die weltberühmte Mezzosopranistin Vesselina Kasarova, in dieser Stadt geboren, kann davon berichten. Sie soll übrigens den Gala-Abend zur Neueröffnung bestimmen, nur wenige Schritte entfernt von dem Jugendstiltheater, in dem sie debütierte. Und wenn es endlich so weit sein wird, sich das Publikum an Opernabenden in der Pause beim Spaziergang auf den Steinen der römischen Straßenkreuzung ergehen kann, dann wird Stara Zagora so bekannt sein wie Mailand, Verona oder Zürich.
P.S. Gerade neu herausgekommen ist die Blu-ray-DVD von Massenets “Thais”, Regie Stefano Poda – 6 Sterne plus! Unbedingt zu empfehlen!

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