Arbeitsjournal. Freitag, der 13. November 2009. Hannover und Berlin. Mit Αναδυομένη.

7.21 Uhr:
[Herrenhäuser Gärten.]

Es ist gerade nicht genug Zeit, ich erzähle später. Erst einmal den Kaffee trinken, denn ich fand welchen. Überhaupt ist’s hier ausgesprochen angenehm. Einsam und angenehm, ich möchte sogar sagen: angenehm einsam. Aber ich bin für halb neun in der Stadt zum Frühstück verabredet. Wie auch immer, wie ich hierherkam, ist schon eine kleine Geschichte wert. Gedulde dich, Leser!


9.45 Uhr:

[Hannover HBF, DB Lounge.]
Kakao. Das ist einer der Vorteile, wenn man bahn comfort-Kunde ist. Jedenfalls sah ich, als ich eben aufs Gleis 9 hochtreppte, nur noch die Rücklichter, na ja, eigentlich auch die nicht mehr. Also eine Stunde Aufenthalt, die ich netterweise fürs Arbeitsjournal nutzen kann.
Hier noch einmal ein Abschiedsbild meiner Nachtbleibe:Dann den kurzen Kilometer an den Gärten entlang, da war auch schon die S-Bahn-Station; alles ging sehr viel flinker, als die nasse Nacht hatte erwarten lassen. Zu früh, nahezu eine halbe Stunde zu früh, war ich dann am Kröpcke, telefonierte rauchend mit der von meinem Anruf erwachenden, noch schlafestrunkenen شجرة, schleppte meinen Rucksack danach zur Markthalle weiter, wo ich immer noch zu früh war und vor dem Eingang wartete. Die Veranstalterin kam auf die Minute pünktlich, wir frühstückten, das heißt: nur ich; sie hatte bereits gefrühstückt. Nun ein gutes angenehmes Gespräch über den Kulturbetrieb; ich werd nachher mal im Zug so zusammenfassen, daß nicht heraus ist, was s i e sagte, was ich. Gehen Sie dann einfach und traditionsgemäß davon aus, daß die, sagen wir, konservativen Bemerkungen allein von mir getätigt worden und zu vertreten sind.
Aber die Nacht, davor die Lesung.
Es kamen nicht so viele Leute wie avisiert, vor allem waren, was ich anders gehofft hatte, die alten Freunde, Mitstreiter, guten Bekannten nicht da. Vielleicht ist es problematisch, in meinem Umgang gesehen zu werden. Oder man hat sich, wie ich erfuhr, in sich zurückgezogen, mein alter Freund und Mitkämpfer V.A. etwa, den ich wirklich gerne in die Arme genommen hätte nach so vielen Jahren. Immerhin war meine erste Verlegerin da, Postscriptum, Marlboro-Zeit, Svantje Hanck. Mit ihr gingen wir dann auch essen.
Danach fuhr mich die Veranstalterin an meinen Nacht-Ort. Es ist derzeit Messe in Hannover, Agro-Tech, na ja, der Name… jedenfalls waren keine „normalen“ Hotelzimmer mehr frei, nicht solche mit einigermaßen plausiblem Preis. So brachte sie mich bei den Herrenhäuser Gärten in einem „Naturfreundehaus“ unter, einer Mischung aus Herberge für, hm, „gestandene Jugendliche“ und Vereinshaus… was ich ja immer ganz reizvoll finde, sowas. Aber wir fanden es nicht, erst nicht, wir rauschten mit dem Auto durch die unbeleuchteten Alleen der Herrenhäuser Nacht, bogen hier ab, falsch, da, auch falsch, dort, wiederum falsch…. irgendwann mußten wir wenden. Nix erleuchtet, nur wenige Hauslichter weit zurückversetzt von der Straße, hinter Rasen Bäumen Busch.
Endlich waren wir da. „Das ist es!“ Aber ein Schild NATURFREUNDEHAUS stand nicht dran, obwohl wir allezeit nach einem Ausschau gehalten hatten. Egal, die Veranstalterin war sich sicher. Fand aber nun den Schlüssel nicht. Am angeblich dafür vorgesehenen Ort war Leere. Unter den Füßen dichter Laubmatsch, nahebei rauschte der Autobahnzubringer. Versuche zu telefonieren, niemand nahm ab, aufs Klingeln an der Haustür reagierte eh keiner; weitere Telefonversuche, nun kackte der Veranstalterin Mobilchen ab. Nahmen wir halt meines. Endlich meldete sich wer, ich ging derweil im Garten auf und ab, lachte, überlegte, ob Svantje anrufen und fragen, ob sie vielleicht einen Couchplatz habe… rief شجرة an, um sie an dem Abenteuerchen teilhaben zu lassen, kurz: war sehr vergnügt. Ich mag sowas halt. Besser als jedes Luxushotel. Na gut, obersten Luxus nehm ich aus, Marmorbadewannen für drei und so… aber sowas kriegt man nur beim Fernsehn. Da man das bei Kulturbüros n i c h t kriegt, ist ein Naturfreundehaus die absolut ideale Alternative für Typen wie mich.
Also, der Schlüssel lag dann nicht da&da, sondern dort&dort; das kam nachts endlich heraus. Wir schlossen auf. Riesig. Leer. Aber eine Küche. Mein Zimmer oben im ersten Stock. Nicht jedes Licht funktionierte. Öffnete ich das Fenster, kam der Autobahnzubringer zu mir herein. Ideale Monadologie. Die Veranstalterin fuhr davon, ich durchstreifte das Haus, legte mich dann aufs Bett und entschlief für die nächsten paar Stunden.

10.54 Uhr:
[ICE Hannover-Berlin.]
Eh ich’s vergesse: Eine klasse… sagen wir: Replik Αναδυομένηs >>>> dort. Gute Art, mit der Dschungel Positionen umzugehen, auch und gerade in der Aufspaltung und dem imaginären Gesprächscharacter. Sicher bin ich in Einzelheiten anderer Meinung und sehe manches anders als sie, aber das scheint mir zu normal zu sein, um eigens darauf einzugehen oder gar zu antworten. Nein, prima ist das so. Es entspricht dem ästhetischen Modell. Da mich Αναδυομένη aber darum gebeten hat, ihre Belange nicht weiter in Der Dschungel zu behandeln, werde ich nunmehr über sie schweigen; es sei denn, sie entbindet mich von der Verpflichtung wieder.

Zurück zur Lesung. Wie gut sie war, läßt sich meist daran ermessen, wie viele Bücher verkauft werden. >>>> Beide Anderswelt-Sätze gingen weg, die Sizilienbücher gingen weg (davon hatte ich enschieden zu wenige mitgebracht), die Orgelpfeifen gingen weg… und nach der Niedertracht der Musik wurde gefragt, die ich nicht dabeihatte…

13.16 Uhr:
[Arbeitswohnung. Latte machiato aus der PAVONI.]
Ich komme zurück, und Du liegst hier: seitlich, tief im Schlaf, den Teddybären fest im Arm; nicht einmal mein Kuß auf Deine linke Wange kann Euch wecken. Bereits im Zug erreichte mich ein Anruf der Schule: „Ihr Junge sitzt hier bei mir, es gehe ihm schlecht, ihm sei übel, er habe Kopfschmerzen.“ „Dann soll er heimgehen, gleich in die Arbeitswohnung, sich hinlegen, wenn er mag; ich komme in einer Stunde an.“ Das tat er nun wohl; er hat sich hier einen Pfefferminztee zubereitet, keinen Teebeutel, sondern aus den feingestoßenen Blättern mit einem gesonderten Filter; seine Tasse ist leer.
Ich mach mir ein wenig Sorgen; möglicherweise sind diese Kopfschmerzen nicht n u r, jedenfalls, gesundheitsbedingt; die Schule läuft im Moment nicht gut, und es ist die stille Rede zwischen Deiner Mama und mir, daß Du unglücklich verliebt seist. Schlaf, mein Junge, schlaf einfach, bis Du von selber aufwachst. Der nächste heiße Tee ist schon fertig. Ich wache über Dich.

4 thoughts on “Arbeitsjournal. Freitag, der 13. November 2009. Hannover und Berlin. Mit Αναδυομένη.

  1. das muss nicht auf sie zutreffen, aber ich hab gerade beim lesen gedacht, wenn ich mir meine gemeinheiten nicht so gern vor augen führen will, oder mich einfach nicht konfrontieren will damit, dass ich anderen menschen leid zugefügt habe, dann lobe ich sie ganz gern mal weg, und versuche sie so gütlich zu stimmen. fairer wäre vielleicht, angriffsfläche zu bieten, dass sie mich richtig hassen lernen und sagen, die dumme kuh, die kann mich mal, oder, geht ja auf keine kuhhaut, was die mit mir gemacht hat.
    nun denn, ich gratuliere anadyomene hier nachträglich herzlich zum geburtstag, und hoffe, sie hatte ein schönes fest! es hat mich damals sehr gefreut, dass sie beide zur lesung kamen.
    was immer irgendwelchen ästhetischen modellen entspricht, ist mir manchmal sowas von schnuppe. was ich oft nur sehe, bei einer gewissen generation greift einfach das ich mach jetzt keine kompromisse mehr bei meiner sexualität modell. für einige heisst das aber unter umständen bloß, verrat an den hoffnungen ihrer jugend. letztlich vielleicht die totale kapitulation und ein aufgehen und verschwinden in der dienstleistungsgesellschaft. aber, das muss nun nicht auf sie zutreffen, es sind eher überlegungen allgemeinerer art. ich lese ja nur. verzeihung.
    vielleicht, habe ich nur gedacht, sollten sie mal der böse sein, also der richtig böse, der nicht gemocht werden will für seine bösigkeit. eine rolle, die hier, scheint mir, noch gar nicht besetzt ist. wer will?

    1. @diadorim, lächelnd. Das mit dem Bösen hab ich schon versucht. Es stimmt einfach nicht, steht mir auch nicht. Andererseits bin ich “der Böse” ja für den Betrieb g e n u g, das muß man auch nicht persönlich ausweiten. Weshalb soll ich eine Aggression dort an den Tag legen, wo ich sie nicht habe, sondern im Gegenteil lieb hab? Aus pädagogischen, didaktischen Gründen? D a s wäre Selbstüberhebung.

      Die Träume meiner Jugend. Ja. Einssein und -bleiben. Aber wir lernen, und zwar nicht nur aus Affirmation an die ökonomische Leistungsgesellschaft. Reife heißt, für mich, zunehmend mehr: seine eigene Ambivalenz und die der anderen zu erkennen und anzunehmen. Eben nicht: wegzulügen.

    2. ich find meine ambivalenz total doof. damit hab ich sie ja nicht weggelogen. ich sag nur, sie macht eigentlich nicht viel her und sie ist unschön. ohne ambivalenz war schöner, ohne ambivalenz war viel schöner, ohne ambivalenz war naehzu paradiesisch schön, in ambivalenzien herrschen so schrecklich pragmatische götter. und es kann doch nicht alles nur ambivalenzien sein, denk ich da, es war ja früher auch nicht alles ambivalenzien, und müsste man nicht dann wie columbus irgendwie neue nicht ambivalente kontinente suchen fahren? weils doch ohne ambivalenz so viel schöner war. tja. ich zeichne schon neue karten.

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