Arbeitsjournal. Sonnabend, der 23. Januar 2010. Frankfurtmain-Berlin.

5.58. Uhr:
[ICE Berlin-Hannover.]
Gestern kam ich gar nicht ans Netz. Zu sehr beschäftigten mich die beiden Geparden, die frei durch die nicht sehr vielen Räume des Landschlosses strichen, zahme Tiere, hieß es, aber niemand ist bei solch großen Katzen sicher. In den Park wischten sie nie, sondern blieben an den Türen, die wegen der Kälte freilich auch geschlossen waren. „Sommers sind sie mehr draußen als drinnen.” Ob das nicht gefährlich sei, was denn die anliegenden Bauern sagten… Die beiden gingen nicht ans Vieh. „Sie schlagen nur, was auf mein Land kommt.” Das war nicht ohne Grausamkeit gesagt, das hatte einen, möchte ich sagen, sanften Sadismus.
Nur die eine Hälfte des Schlößchens ist privat, aus den Führungen durch die andere Hälfte wird ein Teil der ständig anfallenden Kosten beglichen; mal sei das Dach leck, dann wieder, häufiger, führten die sanitären Anlagen ein Eigenleben. Und wenn die Touristen kämen – die Saison beginne stets mit dem Frühjahr; sie, sagte شجرة حبة, verreise dann immer „ins Eis” – blieben die Geparden im Großkatzenhaus; zu dem ist die Orangerie ausgebaut.
شجرة حبة wirkt anders im Haus ihrer… nein, „Eltern” ist zu ungenau, zu bürgerlich gesagt: Ahnen trifft es viel deutlicher. Das deutlich Künstlerische fällt dort von ihr ab oder, ebenfalls genauer, ändert den Aggregatzustand und wird eine Art Nebel, der permanent um sie weht, das heißt: oszilliert und bisweilen sogar, etwa im Lichteinfall unter den körperhöhen Fenstern, schimmert. Das ist nicht ohne Geist, nicht ohne Geister, von denen ich unmittelbar annahm, daß man sie höre, nachts: Wispern auf den FGängen wenigstens oder ein Knarzen von Schritten. Nichts dergleichen. Allerdings tranken wir auch viel, nachts am Kamin, den ich besorgte, was شجرة حبة gefiel. Sie hatte sich zum Abendessen gekleidet, ganz Dame einer uralten Aristokratie; fürstlich das Collier, es wirkte so, aber tatsächlich hatte das Kleid keine Schleppe. Ich dachte, die schweren Brüste verzichteten darauf, einem Kind die Milch zu geben, weil sie eine ganze Art nährten, die Fantasien der Art. Während des Essens blieben die Geparden ausgesperrt; es hielt mich ein warnendes Innen von der Frage ab, wer sich darum kümmere. Es g a b Gesinde, zweifellos, aber ich sah es nie, hörte es nicht, es diente völlig lautlos, gesichtslos. So daß man sich nicht sicher sein kann, daß es Menschen sind.
Ich feuerte den Kamin, die Geparden kamen, knurrten, als sie mich sahen, dann strichen sie mir um die Beine. Hohe Tiere. Man hört, wie bei Hunden, die übern Estrich laufen, die Krallen auf dem Boden klacken. Beide Tiere trugen Halsbänder, in denen kleine Sender. „Nur für die Theorie”, sagte شجرة حبة, „falls sie sich wirklich mal vergessen. Wir könnten sie darüber mit Stromstößen bändigen. Es wäre aber unsportlich und ist auch noch nie vorgekommen.”
Wir sahen durch die Bibliothek, wir lasen bis in den frühen Morgen Gedichte: Hofmannsthal, Rilke, Hausmann, George: ich las; شجرة حبة lag halb am Boden, halb auf die Geparden geschmiegt und hörte zu.

Gestern dann die Mitgliederversammlung im >>>> Literarurforum. Ich bekam den so nötigen Vorschuß auf >>>> mein Seminar Ende Februar. Eva Demski wiedergesehen, es herrscht sofort Einvernehmen zwischen uns, geradezu immer, auch wenn wir in Einzeldingen durchaus verschiedener Meinung sind, etwa Suhrkamp betreffend, die Oper betreffend usw.; Ria Endres und Reinhold Batberger waren da, Klaus Reichert kam hinzu. Wir faßten unsere Entschlüsse; es war auch der Wunsch Werner Söllners, der >>>> aus so privaten wie persönlichen Gründen zurücktrat.

Heimwärts. Die Geparden. Ich begann gestern ein Gedicht für sie, blieb aber stecken. Vielleicht bekomme ich es während der Zugfahrt fertig, zumindest fertig skizziert.

Mit meiner „Grippe” war’s das jetzt; massiv mit Metavirulent und Grippstad draufgehauen, aber bereits gestern schon keine Lust mehr auf Medikamente gehabt. Verläßlich bin ich da nur mit dem Grog. Zwei s e h r steife trank ich am Kamin, den halben Becher je voll Rum.

8.42 Uhr:
[ICE Hannover-Berlin.]
So, umgestiegen. Irre voll, der Zug hatte zehn Minuten Verspätung, vor allem aber ist ein ganzer Zugteil ausgefallen, was nun zu viel Kuddelmuddel aufgrung der Sitzplatzknappheit führt. Imgrunde eher komisch, vor allem, weil sich die Leute so ärgern. Ich selbst habe Glück und einen leeren Platz, allerdings ohne Tisch, erwischt, neben einer Dame, die ich nur ungern weckte.
Also ich seh’s eh gelassen, hätte mich auch irgendwo auf den Boden gehockt. Es geht sowieso jetzt schnell, noch anderhalb Stunden, dann werde ich in Spandau sein und mit der S weiterfahren; ich schätz mal, noch vor elf werd ich in der Arbeitswohnung sein. Oh, und solch ein Jammerton bei solch einer charmant aussehenden jungen Dame: manchen Leuten liegt die Lebensverdrießtheit in der Stimme, nicht im Gesicht. So sollten einfach schweigen, dann hätt man sie gerne um sich.
Hab >>>> Eisenhauers „Die erste Versuchung” zu lesen begonnen: eigentlich ein spannender Text; aber stilistisch wäre da mit dem Skalpell dranzugehen gewesen; mit dem Skalpell, ja, weil der Text so ist; da dürfen dann die Satzränder nicht schwimmen.

(Wenn ich nicht wieder einnicken sollte, mach ich mit meinem Gepardentext weiter.)

11.29 Uhr:
[Arbeitswohnung. Křenek, Orpheus und Eurydike.]
Zurück. In Berlin, anders als bereits in Frankfurtmain, liegt tief noch der Schnee, ein unterdessen völlig vereister. Dennoch war’s eben anders, als ich dachte (nein, nicht: fürchtete); zwar, ich zog den Mantel und das Jackett aus und dann gleich einen zusätzlichen Pullover und die Lammfellweste meiner Mutter an, aber s o kalt ist’s dann doch nicht in der ungeheizten Wohnung; nein nein, das läßt sich schon sehr gut aushalten.
Ich will das Gedicht weiterschreiben, dann werd ich mich bei meiner Familie melden, dann noch ans Cello gehen, sowas ab 15 Uhr schätze ich; danach dann ans Terrarrium hinüber. Aber auf jeden Fall schon einmal den Křenek ganz hören: Vorbereitung für die kommenden zwei Wochen, währendder ich die Proben der >>>> Neuinszenierung am Konzerthaus Berlin begleiten und darüber schreiben werde; dafür sind Die Dschungel bis zur Premiere quasi reserviert; es wird da eh kaum Zeit für etwas anderes sein. Gut, das Lektorat des Erzählbandes noch. Auch dafür ist ein Vermerk in Der Dschungel einzustellen.

4 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonnabend, der 23. Januar 2010. Frankfurtmain-Berlin.

  1. “Man hört, wie bei Hunden, die übern Estrich laufen, die Krallen auf dem Boden klacken.”
    tierpark friedrichsfelde, die krallen der hyänen auf den fliesen, 2004 oder 2005 aufgenommen. die rhythmik des eingesperrten.
    ich mag den einbruch des subrealen in texte, ich ließe nur vermutlich eher europa auf einem ameisenbären reiten. teller hat für pirelli den schönen faultiere um die hälse gehängt. gerade ging mir auf, ich schreibe nun wirklich einen text, der gesungen wird, was mich in eine unglaubliche unruhe versetzt.
    die welt anhand von losfisch und festfisch begreifen. ich werde von tag zu tag schöner. die lehren des bushido erlauben es zwar nicht, aber was interessiert mich schon der geruch von napalm am morgen.
    ich versuche meinen setzkasten um die fingerhütchen aus porzellan zu bereichern. der wanderstock mit seinen plaketten muss angespitzt werden. münchen könnte sicher noch schrecklicher sein, wenn es wollte.

    1. @anadyomene und diadorim. Ich habe eben eine Reihe von Folgekommentaren löschen müssen, da Sie, anadyomene, Ihren einen Kommentar, auf den sich der dann wieder meine bezog, gelöscht haben; davon betroffen sind davon auch Ihre, diadorims, nächsten Kommentare; all das ergäbe keinen Sinn und ein völlig falsches Bild, hätte ich das jetzt noch stehen lassen, zumindest ein grob verkürztes Bild: die Schärfe meiner Reaktion wäre ohne das Vorangegangene völlig unangemessen. Ich reagiere oft scharf, das ist wahr, aber ich tu es nur dann, wenn es Grund gibt. Im übrigen gilt der Löwinnensatz, der über der Zugbrücke dieses Landsitzes als Wappenspruch steht: Herzensgüte ist wichtiger als Gerechtigkeit.

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