69. Tag des Jahres ZwanzigZehn

Gestern schrieb ich zum ersten Mal einen Tagebuchbeitrag, den ich nicht einstellte. Ich habe ihn aufgehoben, aber die Gedanken dort habe ich alle schon einmal formuliert.

Rasend sei ich, hatte mir Anwar gesagt, als es ganz schlimm war und ich dachte, ich würde mich in all meine Einzelteile auflösen, nur zu laufen hielt mich zusammen. Rasend war sehr treffend, vorangeprescht bin ich, umgestellt habe ich und aufgeräumt, nun geht mir langsam die Luft aus, ich kann diese Geschwindigkeit nicht mehr lange halten. K. hat Recht wenn er sagt, er wolle nicht mehr die Breite abgrasen, er wolle in die Tiefe, einzig ich will nicht in seine resp. ich will ihn nicht in meine lassen.

„Du reagierst wirklich sofort“ sagte meine Freundin J. als sie ihre geschulten Hände unter meinen Rippenbogen schiebt, um mein Zwerchfell zu mobilisieren. Ja, mein Körper ist sensibel auf Hände. Hände die wissen was sie tun. Wie ein Mann meine Taille greift, sagt mir viel. Kann schon alles sein.

In diesem Laufen und Rennen wollte ich zwei Dinge erreichen, mich zusammen zu halten und mich zu betäuben, das hat ganz gut funktioniert, aber irgendwann kommt man an den Punkt, an dem man sich nicht mehr betäuben kann, dann muss man sich den Gefühlen stellen und endlich lernen, damit umzugehen. „Von mir geliebt zu werden ist ein sehr selten erteiltes Privileg“, ist ein Satz, von dem ich annehme, das Anwar ihn zwar gelesen hat, aber auf seine Weise verdrängt, denn für ihn gibt es nur eine, die er liebt. Ich liebe und werde nicht zurück geliebt an einer Stelle meines Lebens. Kann das ausgeglichen werden? Dadurch, dass ich an anderen Stellen geliebt werde und auch zurück liebe? Ich weiß es nicht.
Es ist auch eine Art schöner Schmerz, diese Liebe, und ich bin stolz, dass sie mich nicht bitter gemacht hat. Aber jeder, der antritt, mich zu erobern, hat eigentlich schon verloren, ich bin nicht mehr so bereit und nicht mehr so frei, wie ich es mal war, mich einzulassen, und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, dann habe ich eine Art Ersatz gesucht, von dem ich schon wusste, dass es utopisch ist, ihn auch nur finden zu wollen. Gefunden habe ich jemanden, den ich nicht suchte, dem ich nie verschwiegen habe, dass er auch eine Art Trostpflaster ist. Er wird bleiben, wie Frau Samen Baum, deren Abneigung für flache Schuhe ich teile, aber das ist alles, was ich mit ihr teilen will, mein Herz sei groß und hell und licht sagte Anwar einmal, es hat keinen Platz für einen Samen, aus dem ein Baum entstehen könnte, er würde mein Herz durchbohren, vielleicht an der gleichen Stelle, an der Anwar neulich den Splitter zog und vorsichtig ein Pflaster drüber legte. Ich muss wohl mal den Verband wechseln lassen, er ist schon ganz durchgeweicht. Herzblut hört eben nie auf zu fließen, erst wenn der Herzschlag stoppt und die Gerinnung einsetzt.