74. Tag des Jahres ZwanzigZehn

Es ist nicht so, dass meine Aura keine Farbe hätte, ganz gerade züngelt sie kleinen Flammen gleich um mich herum. Meinen Kopf ziert ein tiefes Feuerrot, nach unten hin, zu meinen Beinen, verfärbt sie sich über Gelb, in Höhe des Bauchnabels zu Lila. Lila kann ich am allerwenigsten leiden.
Ich knabbere an etwas herum, wofür es kein Wort gibt, oder ich habe dieses Wort noch nicht gefunden. Es ist die Überraschung darüber, mit welcher Arroganz mir jemand begegnet, der seinen Weg im Leben gegangen ist, sich eingerichtet hat als Künstler, mich zwar spielt wie Menuhin seine Stradivari, aber eigentlich nichts über mich weiß. Ich habe mich viel zu sehr geärgert. Das ist es gar nicht wert, aber ich kann es nicht so stehen lassen, dazu bin auch ich zu kämpferisch. Was weiß er über den Weg, den ich gegangen bin, was weiß er über meine Seele, über all das, was ich darübergehäuft habe, und das, was wieder aufgebrochen ist.
Nichts.
Wahrscheinlich ist es eine grundsätzlich unterschiedliche Auffassung vom Kunstbegriff. Ich hätte es nicht wagen sollen, Ihn zu fragen sagte er mir, es wäre, als würde er mit einem Blutstropfen auf der Hand seinen Vater bitten, einen gestandenen Hinrforscher, ihn mal eben in die Geheimnisse der Genforschung einzuweihen.
Mir kommen dazu natürlich gleich zwei Einwürfe, Genforschung und Hirnforschung sind zwei verschiedene Paar Schuhe, erstens, und zweitens sollte auch ein Hirnforscher auf solch eine Bitte seines Sohnes mit einem weisen Rat reagieren können, nur ist das in diesem Fall nicht möglich, denn die beiden Herren sind zerstritten. Weshalb ich auch glaube, dass ich mir den Vorwurf, ich spielte vor mir selber verstecken, nicht gelten lassen kann. Dass ich es nicht gewagt habe, auf meine Emotionen zu bauen, ja. Dass ich mich nicht in meiner Seelenwelt verlieren wollte, ja. Das alles ist immer noch so, aber meine Reife hilft mir, mich am Abgrund entlang zu hangeln, auch wenn ich phasenweise alleine gehen muss.
„Irgendwann lernt man lesen und dann geht es wie von alleine“, hat B. über unseren Sohn gesagt. Ich stand daneben und schüttelte innerlich den Kopf. Immer noch nicht geht da irgend etwas von alleine. Lesen ist für mich immer noch eine große Anstrengung, meterlange Assoziationsketten werden gebildet von meinem Hirn, wenn ich es nicht unterbinde. Ich bin schnell müde, aber ich vergesse es auch nicht schnell wieder, noch viel weniger, was jemand gesagt hat. Dieses nicht vergessen können ist Fluch und Segen.
Angesichts dieses Erlebnisses wird der Raum in meinem Herzen größer, lichter und heller, in dem ein anderer wohnt, der dereinst den Spaten stieß und ihn mir dann reichte, damit ich selber weiter grübe. Der Spaten ist geliehen, die Arbeit tue ich selber.
Jetzt sollte ich innehalten und es konsequenter tun, auch S. sagte das, auf mich achten, mich erden. Deshalb wird O. bleiben, er hat diese Verbindung zu den Meridianen auch und diese Ruhe und eine wundervolle Aura, in der ich baden kann. Das aber ist mir vor lauter schnellem Eilen beinahe zu spät aufgefallen.