Die letzten Tage 61

Buchstäblich mal wieder außer Atem grad am Telefon mit einem Anwalt, einen Abgabetermin zu besprechen. Doppelter Tarif als sonst. Und immer sind’s die lieben Kolleginnen, die mit ihrem Weitersagen mir dergleichen zukommen lassen. Aber nicht wegen des Anwalts, sondern weil ich straßauf kommend in die Wohnung noch vor der Tür das Telefon hörend gestürzt war. Das Weil begründet aber nur ein Warum, nicht den Grund. Darum wollte ich zunächst mit einem „Der Kopf zuckt vor der Vorstellung zurück…“ anfangen. No need, no pleasure. Hieße, gewisse Mechanismen entkoppeln. „Das ist vorbei.“ Sagte MM gestern abend noch auf dem Platz in der Oberstadt, als mein Sprechen sich doch wieder in Nebenbemerkungen in der jüngeren Vergangenheit verfing. Damit die paar Dinge sich paaren, die sich nicht mehr paaren. Das Andere ist das Zweite. Ganz entschieden so: Würglichkeit. Die Schritte derer seien vor der Tür, die alles riefen. Das Unaufhörliche. Benn. Aber das wiederholte „es beugt auch dich“ wiederholt sich im Kopf zu nichts Überzeugendem. Gut, ich glaube, ich hab’ das Scharnier für heute abend gefunden, die Tür, die sich mir zu sperren begann, aufzutun. Hat lang’ gedauert, und ich mußte mich tatsächlich erst hier innerlich verabschieden und andere Wege gehen, nämlich hoch down zum Benn greifen. Zwar hüpft das Herzl weiter, das aber nun nicht auf. Wie begründete MM die Einladung, die mit der Bitte einherging, Schnitzel zu kaufen, die’s hier aber nicht gibt, und da ich’s dem Metzger auch nicht besser zu erklären wußte, wo das nun beim Schwein abgeschnitten wird, und der dann vom hier üblichen Schnitt den Knochen weg- und vom Rest die erforderlichen Scheiben absäbelte? Er habe mich gestern nachmittag in Amelia Eis „schlabbern“ sehen, was richtig ist, denn ich stand neben der einen Eisdiele, unterhielt mich mit dem aus der Oberstadt bekannten Ukrainer und seinem kleinen Sohn Sascha, wobei ich bei einer geographischen Informationen nachhakte, denn die Frage nach dem Wo wurde mal mit Karpatennähe beantwortet. Irgendwann schaute ich im Atlas nach, und dann der Verdacht einer Czernowitz-Nähe. Ja, das liege achtzig Kilometer entfernt. Seine Frau sei dort zur Schule gegangen. Material für eine Gedankenreise: einfach mal mit einem der Kleinbusse mitfahren, die die Ukrainer(meist ja -innen) von dort nach hier und umgekehrt bringen. In Terni sah ich mal die Ankunft von ca. zehn solcher Kleinbusse mit ukrainischem Kennzeichen. Autos, die zum Abholen dastanden. Um mir den Begriff „Geburtsstadt“ zu illustrieren (er spricht nur wenig italienisch), wölbten seine Hände einen schwangeren Bauch, womit er sagen wollte, seine Schwiegermutter sei dort geboren, die sich nun hier einen dicken, fetten Einheimischen zugelegt (was ist eigentlich gegen das postponierte Reflexivum zu sagen, dauernd fühle ich mich gemüßigt (eigenzensorischer Euphemismus für ‚muß’), mich zu korrigieren, in diesem Fall ein ‚sich zugelegt’?). Und als er mich da – wohl von einem Auto aus – hatte ‚schlabbern’ sehen, sei ihm der Gedanke zu einem gemeinsamen Abendessen gekommen. Ich also bei ihm so etwas wie Hunger assoziiert hätte. Und dann die Sichtweise des Jüngeren akzeptieren, was meine Mehr- und Weniger-Erfahrung betrifft. Aber das ist wohl so. Und viceversa. Unbenommen.

8 thoughts on “Die letzten Tage 61

  1. Czernowitz Es ist doch erstaunlich, wo überall die Kinder und Kindeskinder der Czernowitzer wieder zu finden sind. Der Mythos dieser eh. Kulturmetropole wird so noch lange weiter leben. Es gibt (viele sehr gute) Bücher über dieses “untergegangene Atlantis” u.a. von Zvi Yavetz, Erinnerungen an Czernowitz – wo Menschen und Bücher lebten, C.H. Beck-Verlag, München 2007.
    Noch ein anderer Buchtipp über “Das letzte Territorium” von Juri Andruchowytsch. In der Essay-Sammlung (erschienen in edition suhrkamp) ein wunderbarer zur “Carpathologia Cosmophilica” in der er eine (fiktive) landeskundliche Einordnung der Karpaten und jener ehemaligen österreichischen Kronländer versucht. Der “Begriff” Heimat gewinnt hier ganz neue Tiefe und Bedeutung (irgendwo wurde das doch die letzten Tage hier in der Dschungel auch diskutiert, das Thema HEIMAT).
    Ihre Textbeiträge sind einfach immer wieder eine wunderbare Überraschung, lieber Herr Lampe. Danke Ihnen für den schönen Abendausklang, herzlich Teresa.

  2. Eine kleine wahre Geschichte aus Czernowitz Lieber Herr Lampe,
    ich schenke Ihnen und Ihren Nachbarn mit den Czernowitzer Wurzeln eine kleine Geschichte und natürlich allen geneigten Dschungel-Lesern:

    Rosa`s Sonntagvormittag

    „Schreib mir Deine Lebensgeschichte auf“, sagte mein Ur-Enkel Rolf neulich zu mir! „Du bist meine einzige noch lebende Zeitzeugin aus dem vergangenen Jahrhundert“.

    Rolf betreibt Ahnenforschung. Gierig saugt er alle Informationen auf, die er von mir kriegen kann. Bis ins 16. Jahrhundert reichen die Wurzeln, die er bisher zu unserer Familie ausgegraben hat. Wie ein Puzzle setzt er einzelne Hinweise zusammen und geht jeder Spur nach: Aus den Mosaiksteinchen der Erzählungen in unserer Familie. Geschichtliche und politische Ereignisse fügt er ein aus den Recherchen, die er mit seinem Computer im Internet unternimmt.

    Als Rolf mich vor einer Woche wieder einmal im Seniorenstift besuchte, wollte er, dass ich ihm von meiner Kindheit erzähle: „Tante Rosa, wie war das damals, als Du ein Kind warst? Welches Ereignis wirst Du nie vergessen?“
    „Oh Junge, daran möchte ich gar nicht mehr denken. Wenn man wie ich bald 93 Jahre alt wird, kommt einem rückblickend manches wie eine unendliche Fernsehserie vor.“

    Eigentlich wollte ich Rolf nichts erzählen. Manches liegt auch so lange zurück, dass ich glaube, es gar nicht erlebt zu haben.
    Doch Rolf quengelte und quengelte und ließ nicht locker. Er holte mein uraltes Jugend-Fotoalbum, mit dem weinroten abgegriffenen Einband hervor, dessen Seiten sich nur noch mit einem Gummiband zusammenhalten lassen. Gemeinsam fingen wir an die alten, vergilbten Fotos aus den 1920iger und 1930iger Jahren anzusehen.

    Die junge Frau mit den langen braunen Haaren und den lachenden Augen bin das ich? Bin das wirklich ich, die Rosa, die im Marlene Dietrich Kostüm, auf dem Kopf ein kleines Hütchen, als 18-jährige neben dem Vater vor dem Theater steht?
    Ach, waren das Zeiten! Wir lebten am anderen Ende der Welt. In der ehemals österreichischen Kronstadt Czernowitz, der östlichsten Stadt der früheren österreich-ungarischen k.u.k. Monarchie. König Carol II. regierte unsere kleine heile Welt in der 50ig-Tausend-Einwohner-Stadt, in der Deutsche, Rumänen, Juden, Russen und andere Volksstämme friedlich miteinander lebten. Wir sprachen alle mindestens drei bis fünf Sprachen und Dialekte. 300 Zeitungen und mindestens genauso viele Kaffeehäuser gab es und das riesige Theater, vor dem mein älterer Bruder uns, meinen Vater, meine drei Schwestern und mich fotografiert hatte.

    Vater arbeitete Tag und Nacht. Als Zugführer war er bei der österreichischen Staatseisenbahn. Von seinen Zugfahrten in ferne Städte brachte er uns immer schöne Kleider, Röcke und Kostüme mit. Wenn er nicht ins ferne Wien unterwegs war, half er seinem Bruder. Der hatte ein Taxiunternehmen.

    Doch der Sonntagvormittag war ihm heilig, der gehörte immer uns, seinen Töchtern. Nach dem Kirchgang führte er uns ins Kaffeehaus aus. Das war Tradition. Während die Mutter das Mittagessen zubereitete und mein Bruder dem Onkel bei den Taxen half.

    Meistens gingen wir ins Cafe Central, das gegenüber vom Theater lag. Wie im Taubenschlag ging es zu. Unter den Augen habsburgischer Schönheiten, die von den Wänden lächelten, trafen sich internationale Geschäftsleute, schäkerten Offiziere und genossen Berühmtheiten aus allen Städten des ehemaligen Kaiserreiches ihren Kaffee: Literaten, Maler und Musiker ebenso wie Politiker, Professoren und andere Gelehrte. Die einen debattierten lautstark an ihren Tischen, während andere still in einer der vielen Zeitungen, die hier auslagen, lasen. An manchen Tischen philosophierte einer, während der Rest der Gesellschaft lauschte. Oft unterhielten Musikanten, Stehgeiger genauso wie Damen- oder Jugendkapellen, den Saal. Am schwersten hatten es die Pianisten, die gegen das Stimmengewirr, das Schwätzen im Saal anspielten. Ja, im Saal. Denn die damaligen Kaffeehäuser hatten in ihrer überdimensionierten Größe nichts gemein mit den Cafes, die es heute gibt. Manche Kaffeehäuser waren so groß wie heute eine kleinstädtische Bahnhofshalle. Die Glastüre im Eingang drehte sich ununterbrochen, oft konnte man innerhalb einer Stunde den gleichen Hut, denselben Bart, dieselbe Nase zigfach in Rotation sehen. Viele kamen auch nur, um zu sehen und gesehen zu werden.

    Unser Kaffeehausbesuch spielte sich immer gleich ab: Gegen halbzwölf betraten wir hintereinander vor dem Vater das Cafe, zuerst Erna, die älteste, gefolgt von Fritzi, Lissi und mir. Wir setzten uns in der Mitte des Saals am Fenster nieder, denn so hatten wir sowohl das Geschehen im Innern wie auch auf der Straße im Blick. Sobald wir saßen, brachte der Oberkellner für Vater einen Einspänner, für Erna und Fritzi einen Verlängerten, für Lissi und mich Schokolade, dazu vier mürbe Kipferl. Danach bekam Vater zuerst die Sonntagszeitung, dann die Wiener Zeitung, wir die ausländischen Mode-Magazine. Ein Ritual, das sich stets in gleich bleibender Weise abspielte. Kichernd blätterten wir Jüngeren in den Modezeitschriften, während Erna und Fritzi sich die Köpfe nach den jungen Offizieren verrenkten oder beschämt wegguckten. Manchmal tänzelte eine der beiden am Arm eines Korso-Offiziers davon, um in der Saalmitte einen Walzer aufs Parkett zu legen.

    Heute glaube ich, dass unser Vater, niemals die Zeitung las, sondern immer heimlich aus den Augenwinkeln seine beiden Ältesten beobachtete und ein Auge darauf hatte, dass nichts Unsittliches geschah. Letztlich war es für ihn und Mutter eine gute Gelegenheit, interessante und gut betuchte Schwiegersöhne für die Töchterschar zu entdecken. So hatte er nicht nur ein Auge auf unsere Liebeleien, sondern lenkte und bestimmte indirekt auch das Lebensglück seiner Töchter. Wer sich im Kaffeehaus nicht bewährte, der hatte keine Chance über die Türschwelle unseres Hauses und in die Familie einzutreten.

    Gute Nacht und träumen Sie wohl…. vielleicht von Czernowitz…..
    Herzlichst Teresa

    1. Ich danke Ihnen sehr für die Geschichte. Vielleicht werde ich wirklich dorthin fahren müssen. Ideal wäre in Begleitung von Valerian, Meroslava und Sascha. Nein, ich muß nicht müssen. Weil Heimat ein Ort ist, der sich nicht festmachen läßt. Der Begriff wohnt in den unterschiedlichsten Sphären. Czernowitz wäre eine Heimat der Sprache, wo eine Heimat nicht ist. Ich sage “eine Heimat” und denke an “Heimate”. So ein merkwürdiges Plural, in dem sich die Gedanken und Sehnsüchte wiederfinden, die sonst kein Zuhause hätten. Es ist klar, daß ich an Celan denke. Seine Sackgassen. Ich werde wohl träumen. Danke Ihrem sehr leichten Vielleicht, Frau Teresa.

    2. Rose Ausländer Es ist der Leib, in dessen Innenraum
      Wir ruhn und rollen ohne Unterlaß
      Er ist die Erde, und er ist der Baum
      Sein Mund die Grille und das Gras
      Er ist der Wellenschaum, der Himmelssaum
      Der Äther und der Dinge Ebenmaß

      Es ist der Geist, aus dem sich jedes Ding
      Mit Atem, Schauer, Licht und Leben regt,
      der dein Entzücken, deine Pein
      in seinen glanzgetränkten Augen trägt,
      der deine Lust, dein Ja, dein Nein
      in seine grenzenlose Liebe legt.

      Auch eine Möglichkeit „Heimat“ zu denken…. wie ich gerade…
      Einen wunderbaren Tag allen wünscht Teresa.

  3. Von Heimat(en) (und) Reisen @ANH
    Dank Ihnen für das Wiederfinden der Diskussion. Ich schreibe ein paar Gedanken zu „Heimat(e)“ hier hin….gewisse Aspekte scheinen mir hier wg. des Kontextes (Czernowitz) besser aufgehoben… vielleicht mögen Sie die Sätze von hier nach dort verlinken und viceversa…

    @Bruno Lampe
    In Ihren Zeilen steckt unendlich viel Poetik, die mich an diesem Morgen, an dem ich im Zug den Rhein entlang zur Loreley fahre (ja, Sie erinnern sich, … da war mal was…. das „Lorelayla“-Projekt) mein Herz erfreut und – passend zur aufgehenden Sonne – mich in den Tag hinein träumen lässt.

    @ANH und Bruno Lampe
    Wenn ich an „Heimate“ denke (und das sehe ich auch so, dass wir nicht nur eine, sondern mehrere haben) und an Czernowitz und Bücher und Menschen und Literatur…. D A N N kommt mir Rose Ausländer in den Sinn. Unweigerlich. Sie, die die Stationen ihres Lebens auf die Grundfragen des Lebens verdichtete: „Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was soll ich tun? Wie bin ich als Mensch gemeint?“ All das steckt in diesem Heimatbegriff mit drin, unendlich viele, zeitlose Fragen von Religion und Philosophie.

    @Lampe
    …und ja…reisen Sie! Nach Czernowitz! … BALD…. Von Jahr zu Jahr verändert sich zunehmend das Stadtbild…. Ich bange manchmal….Eigentlich sollte die gesamte Stadt zum Weltkulturerbe werden. Manchmal wäre ich gern eine Zauberfee, die mit ihrem Zauberstab magischen Schutz über dieses Kleinod deckt. Reisen Sie. Entdecken Sie die besonderen Menschen, die von dort kommen, die dorthin Jahr für Jahr wieder zurück kehren. Die Märchen und Mythen, sie werden lebendig, wenn Sie durch die Straßen, die engen Gassen laufen.
    Wenn Sie können…. Fahren Sie mit dem Bus bis Wien, besteigen Sie dort die Donau, schippern Sie hinab durch die Donauländer bis ins rumänische Constantia. Steigen Sie dort in den Zug, jedoch nicht in einen der schnellen Expresszüge die via Bucaresti in den Norden fahren, sondern wählen Sie die Regionalbahn, durch den östlichen Landesteil, nach Suceava. Sie werden eine unvergessliche Reise haben, mit den unterschiedlichsten Menschen, die ein- und aus- und umsteigen, ins Gespräch kommen…. Wenn Sie kein rumänisch sprechen, das macht nichts, Sie werden sich dennoch zu verständigen wissen. Mit Ihren genannten Begleitern wird es vielleicht sogar einfacher sein, weil Sie auf der langen Reise nicht ganz alleine sind. Von Suceava aus, gibt es mehrere Möglichkeiten, entweder weiter im Zug bis Czernowitz oder in einen Kleinbus umsteigen…..
    Teresa

    1. Ich hoffe, Ihr Tag behielt das Wunderbare, das Sie ins wirkliche und imaginäre Reisen durchaus hinzuflechten vermochten für mich. Zumindest Ihre kleine Routenbeschreibung ist mir willkommenes Längeres Gedankenspiel. Vorerst so. Eine Reise in ein Resonanzland und das wirkliche Gefühl eines Reisens in ein Hinterland, kein Vorstoßen, kein Da-Sein, einfach nur ein sich Er-fahren, so empfinde ich es in Gedanken. Es wäre nicht so, führe ich beispielsweise nach Portugal oder nach Schottland. Vielleicht weil dort das Land aufhört, weil es im Westen liegt. Ich weiß es nicht wirklich eindeutig festzumachen.

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