Abermals. Vaterschaft. Der erste Tag

mit den Kindern allein. Die Wahrnehmung populärer Medien erfolgreich vermieden. Bislang.
Manchmal stell ich mir vor, wie es wäre zu erwachen, und diese Liebe wäre einfach vorbei. Ein Jackett, das ich lange trug und gerne. Es ist fadenscheinig geworden, der Kragen ausgefranst, die Nähte gebrochen, die Motten haben es hie und da zum Frühstück gehabt, und ich spanne einmal die Schultern an, da reißt es an den Schultern ganz auseinander; das Futter ist schon seit Monaten schütter, man findet kaum je den richtigen Einschlupf in die Ärmel mehr, ja, ich schäme mich ein bißchen, mich draußen immer noch in ihm zu zeigen: es sieht schon so sehr nach Armut aus. Doch für drinnen war es niemals gemacht; drinnen, bei Tisch und bei Schreibtisch, trägt man andere Sachen.
„Die Liebe”, läßt Thornton Wilder die Perichole zum Theater sagen, „hat es in der Welt nie gegeben: allein für d i c h ist sie gemacht.” Vielleicht beharre ich deshalb, seit ich das ahnte, so sturnackig drauf, >>>> das Leben als einen Roman zu betrachten. Dann aber wieder schlüpfen die Kleinen zu mir, sehr frühmorgens, aus ihrem Bettchen ins Bett, und das Mädelchen drängt sich an mich, ihr Brüderchen an sie, und keins von beiden weint, wie sonst, wenn ihre Mama da ist, sondern sie legen sich einfach dazu, und sie schlafen weiter. Ich erinnere mich, Die frühe Dschungel legt einiges Zeugnis davon ab, wie ineinander und umeinander mein leiblicher Sohn, als er so klein war, mit mir immer schlief. Dies ist hier anders. Er aber braucht, der als Zehnjähriger bereits seine Pubertät deutlich ins Auge gefaßt nimmt, keinen Papa mehr; e r braucht den Vater. Vielleicht ist Elterneinheit für ihn schon kein Wert mehr, von dem es sich nicht auch distanzieren ließe: gleichberechtigt die Mutter und den Vater voneinander separierend, weil über Entfernung näher heran: und das Bild zerfällt ihm nicht mehr, sondern jedes Einzelne öffnet, weil es ein Bild längst nicht mehr ist, Welten nach innen. Den Zwillingskindlein hingegen, denen die Selbstverständlichkeit ihrer Gene die Identität mit der Einheit versagt hat, bin ich, das Wort fiel mir ein, Ander-Papa: sie erleben jetzt zum ersten Mal Trennung, und Anderpapa bietet den Schutz. Dürfte ich den ihnen nehmen? Und machte mich n i c h t schuldig?: gerade w e i l die Selbstverständlichkeit nicht ist? –
Am Weg liegt ein hungerndes Kind. Wenn einer es aufnimmt für kurzes, darf er’s beim Kurzen nicht lassen: es einmal zu nähren, verlangt, es für immer zu tun: „für immer” bedeutet: so lange, bis es das selbst kann: sich nähren. Will man das nicht, muß man es am Wegrand lassen, vorbeiziehn ungerührt wie ein Hindu, dem jedes Leid gleichwertig im Spiel der aufeinanderfolgenden Welten ist. Das Kind vom Weg auf- und mit hinwegzunehmen, bedeutet, eine Lebensentscheidung zu treffen. Japaner wissen das, und ich darf’s jetzt nicht vergessen. Müttern, wenn sie gesund sind, sind ihre Kinder i m m e r selbstverständlich, und die Väter, w e r diese Rolle übernimmt, letztlich, sind ihnen egal. Deshalb wird keine Frau jemals begreifen, was eine männliche Entscheidung ist, sie wird den Mann nie begreifen und zwar vielleicht „sachlich” verstehen, was ihm narzisstische Kränkung sein muß, es nicht aber fühlen. Umgekehrt haben die Väter, wenn neue Kinder kamen, die alten immer totgebissen. Dann kam die Zeit der Entscheidung, und der König von Gottesgnaden stellte sich, von sich aus, als Entscheidung, unter das Gesetz. Insofern ist „diplomatische Immunität” als ein noch immer praktizierter Nachklang des feigesten Gottesgnadentums g e g e n die Entscheidung gerichtet. Ich muß mir dessen bewußt bleiben jetzt: daß i c h entschieden habe. I c h nahm die Kinder vom Wegesrand. Das ist kein Opfer.

Der gestrige innere Aufruhr ist vorüber.

[Bartók, Zweites Violinkonzert.]