Immer noch Gurre, ununterbrochen. Mittjunis Arbeitsjournal: Dienstags, der 15 Juni 2010. Vorschau auf Dublin, dann Paris.

7.58 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Ununterbrochen, obwohl der mit der Mittsommerwende in enger Verbindung stehende Johannistag, den auch die Gurrelieder anrufen, erst am 22. , bzw. 23. Juni ist, wenn die Feuer leuchten, mancherorts wurden Strohpuppen hineingeworfen… ununterbrochen habe ich >>>> Themenbögen Gurres im Ohr, immer und immer noch – das ist so mächtig, daß ich gar keine andere Musik hören mag, ja k a n n derzeit. Es sind nicht die des schrecklichen Chores, sondern jene vorher, die der Chor, denke ich jetzt, gerade verhüllen, verbergen, zudecken soll. Jedenfalls werde ich das noch immer nicht los. Es ist mir wie in die Hirnrinde geschnitten, ich werde entweder Bach brauchen oder Neue Musik, um mich davon freizumachen. Würde aber jetzt in Wahlpein vor meiner Musiksammlung stehen und nur zaudern. Ich wüßte einfach nicht. Darüber verginge Zeit, die ich für die Formulierung von Antworten >>>> auf diese Kommentare brauche und auch für die Übertragung eines weiteren Gedichts, das ich gestern spätabends >>>> in der Bar notierte. Dann kam der Profi, diesmal wieder legère, und SG setzte sich zu uns. Die Bar war fast leer, die meisten Leute, ich sah das schon auf der Hinfahrt, hockten vor den Fernsehern, oft auf die Straße hinausgestellten, wo sie Fußball sahen. Diesmal war nicht ganz so viel Gegröle, nein: fast keines. Auch in der Bar lief ein Spiel im aufgestellten Monitor; drei Leute schauten zu aus den Sesseln, zwei von ihnen gehörten zum Haus; an der Theke sprachen noch drei Pärchen, sonst, außer uns dreien draußen, war niemand da. „Wollen Sie nicht mal etwas Gesundes trinken?” fragte Annika und mixte uns einen Cocktail aus Honigmelone, Ingwer und Wodka. Wir empfahlen, das Getränk auf die Karte zu setzen. So gut war es. Fußball war auch Thema zwischen dem Profi und G: unaufgeregt, sachlich. Fußball war kurz ebenfalls Thema zwischen der Löwin und mir gewesen, die es lieber hätte, sagte sie, ich bliebe fünf Tage in der Serengeti, als daß ich ausgerechnet nach Paris führe, in eine Stadt, die sie sehr liebe. Sie wolle versuchen, ja, erwege es ernsthaft, übers Wochenende nachzukommen. Da freilich ist mein Termin mit Prunier; eigentlich wollte ich da nach Laon fahren. Doch was für eine Frau das sei, >>>> von der mir V. geschrieben, ja überhaupt: wer sei wieder d a s, V.? „Ein Freund”, erzählte ich, „aus meinen frühen Frankfurter Jahren. Er hat damals unter meiner Regie Theater gespielt, ging dann nach Paris und wurde Sprachlehrer der Opéra – bis er sich in der Normandie ein Schloß gekauft hat, das von einem Sturm, ein paar Jahre später, derart beschädigt wurde, daß er finanziell in die Knie ging. Er war weiterhin Sprachlehrer, also er bildete die Sänger in den jeweiligen Sprachen ihrer Partien aus, schlief aber, wie er mir schrieb, auf der Couch seines Büros, weil er finanzhalber seine Pariser Wohnung aufgeben mußte. Dann verschwand er für ein paar weitere Jahre, war einfach wie weg. Schließlich erhielt ich eine Einladung zur Hochzeit auf die Adresse seines Schlosses. Irgendwie war in französiche Adelskreise geraten, was übrigens gut zu ihm paßt. Ich hatte damals absolut kein Geld, um hinzufahren. Was ich bedauerte, zumal es dann wiederum still um ihn wurde.
Nachdem mich aber jetzt Prunier”, erzählte ich weiter, „wegen dieser Verlagsgeschichte nach Paris bat, habe ich V.s alte Mail-Adresse ausprobiert… und siehe da…” „Und diese Frau?” „Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt. Das Ganze ist auch für mich ein bißchen seltsam, denn V. antwortet jetzt wieder nicht auf meine Mails. Ich laß mich einfach überraschen.” „Eine französische Aristokratin stünde dir gut.” „Ich weiß.” „Außerdem mag ich es nicht, wenn du >>>> über Gazellen schreibst.” Da mußte ich auflachen. „Du reißt sie”, sagte ich, „ich fotografiere sie.” „Blöder Vegetarier!” Das kam völlig unvermutet. Sie legte sogar auf, direkt nach dem Ausrufezeichen. Ich werd sie säuselnd nachher wecken. Ich kann das –

Um 11.30 Uhr Schlichtungsgespräch im Gymnasium meines Jungen, der heute mittag nicht hier, erfuhr ich gerade per Anruf, sondern bei seiner Mutter mittagessen möchte, was mir gut paßt, weil ich um drei einen Termin mit meiner schönen Fußpflegerin habe. Den Jungen seh ich dann später, um Mathe mit ihm zu üben, nach seinem Schlagzeugunterricht, nehm ich mal an. Um acht, auf einen Drink, die Samarkandin, die aus Beiruth zurück ist; da der Profi insistierend nach ihr fragte, hab ich ein wenig das Gefühl, es gebe da eine Verbindung zwischen ihr und ihm… Beiruth, da hört man doch die Vögel schlagen! Wiederum: sie habe einen Auftrag für mich: also diese Französin, das ist doch auch nicht geheuer. Seit ich wieder „frei” bin, bewegt sich um mich, einem Wellen in Erde gleich, Welt.
Auf jeden Fall muß ich packen. Was ich in Paris unbedingt tun möchte, ich war das letzte Mal 1994 dort, das ist: einmal wieder alle Wege abschreiten, die ich damals, als ich >>>> die Orgelpfeifen schrieb, für diese Novelle abgegangen war, damals in strömendem Regen, stundenlang, mein Skriptheft nah am Körper, das dennoch völlig aufgequollen war, als ich zurück nach Frankfurt kam, um meine Notate in die Novelle zu überführen und zu einer Novelle überhaupt zu machen. Sie geht auf einen n o c h älteren Text zurück, „Stiefelrot” hieß er, den ich direkt nach meinem überhaupt ersten Aufenthalt in Paris geschrieben hatte, in den späten Siebzigern; ich war mit meinem Freund Andreas W. dort hingefahren; die Fotos von damals hab ich noch heute.
Lange lag die Erzählung herum. Ich las sie Do vor, als ich sie kennenlernte, Uni Frankfurt, Philosophicum. Sie mochte die Erzählung nicht. Dann, fast zehn Jahre später, sagte sie eines Mittags zu mir: „Sag mal, du hast mir vor Jahren eine Erzählung vorgelesen. Plötzlich erinner ich mich. Irgend etwas ist damit. Da mußt du noch mal ran.” Der Wolpertinger war bereits fertig und irrte durch die Verlage. Ich hatte an der Börse gekündigt. Etwas Geld war noch übrig. Also reiste ich nach Paris. Den Ausgangspunkt wußte ich: La Villette. Dort ging ich hin. Dort suchte ich mir eine Absteige. Es war, wie im Text, das „Hotel” Terminus. Mal sehn, ob’s das noch gibt. Und von dem aus schritt ich die möglichen Orte der Handlung ab. Vieles, was die kleine Novelle noch heute so lebendig sein läßt, rührt vom direkten Augenschein her. Seit damals habe ich mir angewohnt, i m m e r, wenn andere Orte in meinen Texten vorkommen, dort erst einmal hinzufahren, um sie, im Wortsinn, abzuschreiben.
Do also. Auch ihr verdanke ich zwei Bücher, mit den Orgelpfeifen sogar drei. Vielleicht ist das, abgesehen von Kindern, das Höchste, was ein Dichter von seinen Frauen erwarten kann: daß sie ihm zwei Bücher schenken. Auch die Frau, von der ich mich jetzt trennte, hat mir zwei Bücher geschenkt, mir wichtige Bücher: das letzte von denen schloß ich im November ab. Und prompt ging die Beziehung in die Brüche. Es gibt einen starken Frauen-Pragmatismus. Vielleicht gibt es auch einen solchen Pragmatismus des Dichters: ist die Quelle erschöpft, geht er.
Do also. Ich werde sie morgen mittag zum Essen treffen, dann fahre ich >>>> zum Seminar nach Heidelberg weiter, direkt danach aber nach Fankfurtmain zurück, wo ich >>>> abends im Literaturforum aus dem Ulysses vortragen werde, zusammen mit Eva Demski, Klaus Reichert, Endres & Batberger, Oleg Jurjew, Olga Martynowa, auch mein Freund Leukert wird dabeisein. Mein Kapitel – das Helios.Kapitel – ist schwierig vorzutragen, ich muß das heute unbedingt üben. Bei Leukert werde ich dann übernachten, um frühe am Donnerstag meinen Rucksack aufzunehmen und zum Flughafen zu fahren. Dann, in Paris, wird dieses Abenteuer mit der Französin beginnen (es könnte aber auch, das wäre jetzt s e h r literarisch, eine Exilrussin sein – oder eine Argentinierin? damit ich den Anschluß an ARGO wiederfinde?… >>>> Buenos Aires. Anderswelt) –

In den Tag! Eine sehr schöne, wohl erzählfiktive Briefserie, übrigens, las ich gestern nacht >>>> bei Phyllis Kiehl. Ob sie wirklich in Kairo ist, wie ihre ominöse L. das den Doktor Sago glauben läßt? Ich habe kurz überlegt, ob ich mich als fiktiver Gegenspieler da mit einklinke. Man müßte das in >>>> Aléa Torik dazuverzahnen, die ja ein ähnliches Projekt, wenn auch ganz anders, durchführt. Seltsam übrigens, daß sie sich so gar nicht mehr meldet. Schon Olgas wegen. Aber vielleicht haben auch sie >>>> meine zuckenden Schrumpelhände verschreckt. Auf jeden Fall muß ich heute, vor meiner Abreise, einen Gesamt-Backup machen.

10.37 Uhr:
Schon spannend, >>>> diese Wut. Dagegen >>>> die ernsthafte Traurigkeit Melusines, die genau weiß, wie traurig auch ich bin. Für solche Momente, in denen der dunkle Grund deutlich wird, auf dem das Lächeln geht – Goethe, immer wieder Goethe – bin ich Der Dschungel dankbar.

Muß mich fertigmachen, anziehen. Und eben mit der Löwin telefonieren.

12.41 Uhr:
Das war jetzt ein wirklich g u t e s Gespräch in der Schule. Dein Religionslehrer, der mir genau so gug gefällt wie Dir, nahm mich danach noch mit in seinen Lehrbereich, um mir die Räume zu zeigen. Es gibt kein Geld für dringend nötige Renovierung, aber Seele hat das alte Gebäude mehr als alle Schulneubauten, die ich kenne, zusammen. Es ist eben auch von Vorteil, wenn Funktionalität Risse, ja Gruben hat. Mir fällt dabei ein Witz ein, den man in Italien erzählte, als ich dort lebte. Ein Süditaliener kommt von einer Deutschlandreise zurück und erzählt und schwärmt, was er alles gesehen habe, wie toll das sei, wie er sich amüsiert habe usw. Doch es ist so ein seltsamer Ton in seiner Erzählung, wie von etwas, das er vermißt. Die Freunde schauen ihn an, und einer sagt: „Ma?”, „aber?”. Worauf er voll Unglück erwidert: „Tutto functiona…!

Ich werd mit meinem Buben ein kleines Wörtchen reden müssen, mal abgesehen davon, daß mich die Schule – vorsichtig, aber bestimmt – auf Regeln eingeschworen hat. Was mir nicht paßt, was ich aber einsehe. Genau das muß ich jetzt meinem Jungen vermitteln. Ich selbst hab mich an Regeln nicht gehalten und wurde dafür von der Schule gefeuert. Geschadet hat mir das letztlich zwar nicht, aber das Leben wurde sehr unbequem. Soll es denn aber bequem sein?

13 thoughts on “Immer noch Gurre, ununterbrochen. Mittjunis Arbeitsjournal: Dienstags, der 15 Juni 2010. Vorschau auf Dublin, dann Paris.

  1. Ihr dunkler Grund Die “Wut”, die Sie als solche bezeichnen, richtet sich bei manchen bewusst, bei vielen unbewusst dagegen, dass Sie mit jeder Ihrer Zeilen IHREN dunklen Grund zwar zeigen, auf dem das Lächeln, mehr als das, viel mehr, geht, auch ohne Goethe, aber um jeden Preis verhindern wollen, dass das jemand merkt – und dass sie alle löschen, die diesen Grund in Ihnen ankratzen. Sie verstecken sich, aber wehe, man findet Sie. SIE. Das ist sehr schade.

    Sie sind einsam, verscheuchen aber alle, die mit Ihnen sein wollen.
    Die Dschungel ist Ihre Seele. Aber nicht Ihr Therapeut.

    In tiefer Trauer
    ein Leser und eine Leserin,
    denen Sie wichtiger sind, als Sie wollen.

    1. @Trauer. Ich bin nicht einsam, ich war es sogar nie. Aber ich trage Trauer, bisweilen. Das ist wahr. Nur daß ich mich darin von den allermeisten nur insofern unterscheide, daß ich sie zeige und daß ich sie zu Dichtung umforme. “Kunst ist ein Gefängnis der Trauer”, heißt es bei Pound, was aber nur halb stimmt.

    2. @ANH Dass Kunst ein Gefängnis der Trauer ist, stimmt in der Tat nur halb.
      Die andere Hälfte ist, dass Kunst Freiheit ohne Trauer und durch Trauer zulässt.
      Und gestatten Sie bitte anderen, denen Sie sich in Ihrem Blog partiell so sehr öffnen, Wahrnehmungen. Auch wenn Ihnen diese nicht zusagen.

      “Ich bin nicht einsam”, sagte der Einsame zu denen, mit denen er so gerne sprach, die er um sich zu scharen wusste …

    3. @Trauer. Weil behauptet wurde, ich sei’s. Und weil ich kein sentimentaler Mensch bin. Was die Schnelligkeit anbelangt: sie gehört zu meiner Mentalität. Ich b i n schnell, bin sehr viel schneller als die allermeisten jedenfalls mir bekannten Menschen.

    4. Wenn ich mal was sagen darf … Sie sind KEIN sentimentaler Mensch?
      Was, bitte, verstehen Sie unter “sentimental”?

      Manchmal, wenn ich das alles hier so lese, frage ich mich, ob Sie – entschuldigen Sie bitte – diverse Begrifflichkeiten nicht doch, wie soll ich sagen, “altmodisch” oder vielleicht eher “althergebracht” und insofern banal oder kurzsichtig (das genaue Wort fehlt mir) interpretieren. Gesellschaftskonform.

      Man drückt bei Ihnen einen Knopf, Ihre Reaktion folgt prompt. Vorhersehbar. So vorhersehbar, dass es einen erschreckt.

    5. @Gast. Sie vergessen, daß wir hier – spielen. Allerdings ist es bisweilen ein ernstes Spiel. Das mit den Knöpfen, indes, die jemand drückt, ist absurd: Wenn man Ihnen auf den Fuß tritt, tut es weh; das zu bestreiten, wäre Verleugnung. Verleugnung gehört zu d e n gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen. Ich folge ihnen nicht.
      “Sentimental” oder “sentimentalisch”, in einem von Ihnen angerufenen “alten” Sinn, wäre übrigens etwas ganz anderes als so, wie ich das Wort verwendet habe. Wenn Sie das genaue Wort gefunden haben, dürfen Sie sich aber gern wieder melden. Ich habe momentan keine Zeit, Ihnen die Suche abzunehmen, auch wenn ich sicher über ein breiteres Sprachwissen verfüge als Sie und deshalb schneller fündig würde.

    6. Ach so, dies ist ein Spielkasino. Der Einsatz ist ZEIT.
      Von der Herr Herbst sehr viel hat, weil er sie anderen stiehlt.

  2. Ich lese alles mit, heimlich still und leise. Und ich habe natürlich nur darauf gewartet, dass du rufst; und siehe: da bin ich.
    Vor allem bin ich sehr interessiert, an deiner Auseinandersetzung mit Dr. NO um den „Wolpertinger“. Das will ich mir auch noch unter den Nagel reißen.
    So und jetzt ist auch schon wieder Schluss, ich brauche ausnahmsweise auch einmal meinen Schönheitsschlaf. Das Frauenfrühstück hätte dir gefallen, aber du hattest leider nicht die richtigen Voraussetzungen.
    Und, übrigens, ich weiß, tausendmal wichtiger als all mein Gerede: Herzliche Grüße von Olga.
    Aléa

    1. Olga A. Wolpertinger Hallo Alea!
      Immer wieder schön, Ihren Namen zu lesen.
      Danke für die Rosen des Interesses.
      Um den Herrn ANH müssen Sie sich wohl nicht sorgen:
      Es scheint eine Olga dabei zu sein beim Bloomsday.
      Und wenn es die falsche ist, hätte er vielleicht Zeit, den US zu Ende zu lesen.
      Herzlichst
      Ihr NO

  3. Lieber NO Sie sind ja derzeit richtig fleißig, hier wie dort. Und ich vermute, beim Brötchen backen nicht minder. Nun ruft er, frau meldet sich: und was ist? Nichts, da hat man bereits wieder ausgedient. Da hat er wieder eine andere. Na, ja. Die Rache der Monogamistin läuft ins Leere.

    Ich bin bei twoday als Kommentatorin angemeldet und ich neige, wenn man ein Kennwort angeben muss, zu hyperkomplexen Kennworten. So auch hier; ich habe es noch nicht einmal geschafft, mich nicht zu vertippen. Immer wenn ich mich vertippe, habe ich Angst mich beim nächsten Mal wieder zu vertippen, was automatisch dazu führt, dass ich mich wieder vertippe. Ich wäre längst fertig mit der Uni, wenn ich nicht tausend Versuche bei meinen hyperkomplexen Kennwörtern machen müsste.
    Aléa

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