Die erste Aufführung (Premiere). Gurre (14). Konzerthausorchester Berlin, Lothar Zagrosek. Arnold Schönberg, Gurrelieder. Mit Melanie Diener, Claudia Mahnke, Daniel Kirch, Daniel Ohlmann, Ralf Lukas und Udo Samel.

>>>> Jens Schubbes <% file name="Programmheft-der-Gurrelieder" %>
>>>> Meine eigene Einführung in das Stück.

Nein, ich bin gewiß nicht der Mann, jetzt eine objektive Kritik zu schreiben: >>>> zu nahe war ich an den Geschehen, irgendwie ein Teil der Proben selbst, mitzitternd, mitbegeistert, manchmal skeptisch, manchmal erschrocken, auch schon mal verärgert, dann wieder getragen; wie >>>> Clara Grosz begriff ich, daß eine Musik in ihren Proben ersteht und darin manchmal vielleicht reiner ist als später in der Aufführung: weil der Prozeß solch eine Rolle spielt, weil viele Berufsmusiker, die immer zugleich auch in andere Projekte eingebunden sind, den Partituren selbst erst einmal nahkommen müssen: und je riesiger eine Partitur, desto mehr wird man ein einzelnes Geschöpfchen, das spielen muß, ohne eigentlich den musikalischen Zusammenhang zu haben, ja vielleicht bekommt man ihn nie, weil nur Publikum und Dirigent die Leinwand der Klänge ganz vor sich haben.. Aber vielleicht sollten wir den Begriff der objektiven Kritik, also ihren Anspruch, ohnedies kopfschüttelnd als etwas beiseitelegen, für das es gar keine wirkliche Basis gibt. Schon allein, wo wir in einem Konzertsaal sitzen, kann den Eindruck bestimmen. Da hatten wir nun Glück, der Profi, seine atemberaubend schöne Begleitung und ich. Und vielleicht komme ich genau deshalb und aus den genannten Widergründen einer Wahrheit näher, die aber nicht Objektivität ist, weil immer zugleich mein Herz dabei ist – es kommt mir nicht, n i e, bei Kunst, aufs „Urteilen” an; ich lasse mir nicht gern die Funktion zuschieben, an der Stelle von anderen den Daumen zu heben und/oder zu senken. Kritiker, immer, sind potentiell Henker und tragen überm Kopf die Kapuze der Distanz. Zwei Sehschlitze sind ihnen gelassen, nicht mehr. Ich aber trage meinen Schädel frei.

Also wir kamen an. Es hatte sich eingewölkt, die schwere Wärme der vergangenen Tage war, leider, einer Kühle gewichen, die allerdings ins Innere des Konzerthauses noch nicht gedrungen, und die vielen vielen Menschen, die mit uns gekommen waren, und die vielen vielen Musiker taten alleine körperlich genug hinzu, Schönbergs >>>> Treibhausmusik Treibhaus auch werden zu lassen. Wer aber im Publikum wußte denn, unter welchen Schwierigkeiten diese Aufführung zustandekam? und welche, ja, Überraschung plötzlich, wenn Lothar Zagrosek mit einer Handbewegung ganze Flächen stehenden Tones aus dem Orchester zog und wie er es hinabdrückte, sanft, Rundungen in die Klänge drückte, auf denen die Sänger ihre Stimmen betten konnten: nur selten noch die Momente, vor allem bei dem unfaßbar lyrischen Daniel Kirch, an denen der Klangrausch, an denen der Drohklang dann doch noch den Mann wie ein Wasser verschluckte, in dem er versank, und wir sehen ihn noch, sehen seinen Mund nach Atem schnappen – ganz selten nur. Immer war mein Bangen dabei und wurde doch von Klangglück fast durchweg beruhigt, so daß ich selber drin mitschwamm.
Ja, Zagrosek hatte sein Orchester, doch ist der Ausdruck falsch: „im Griff”: er war ein permanent präsenter sagen wir es s o: Steuermann. Und die See ging sehr hoch… Es gibt Stellen, in denen das Konzerthausochester da eine derartige Schönheit erreichte, daß uns allen die Luft wegblieb – diesmal war auch nichts mehr zu laut. Wo ich in den Proben bisweilen hatte zucken müssen, weil der Lärmpegel ein unerträgliches Momentmaß erreichte, klang es nun völlig ausbalanciert. Doch sicher, man braucht einigen räumlichen Abstand zwischen dem Orchester und sich, damit einem manche Töne nicht wie Querschläger um die Ohren flattern.
Neben uns die kleine Japanerin – wirklich klein, vielleicht 1.40 Körperhöhe – war glücklich. Sie hatte draußen am Eingang gestanden und ein selbstgemaltes Schildchen gehalten: FREIKARTE GESUCHT. Zu ihren Füßen lagen ein vollgeproppter Rucksack und eine Isomatte. Nun war ich ja, anders als gewollt, solo erschienen und hatte eine Karte zuviel gehabt. „Sie möchten eine Freikarte haben?” fragte ich sie. „Dann haben Sie jetzt eine.” So saß sie mit großen Augen auf dem besten Platz. Zuhause in Japan habe sie als Frau nie in Konzerte gehen dürfen, erzählte sie leise. Und hier, da darf sie zwar, allein das Geld… ach, ihre Augen! Ach, wie verwöhnt wir sind! „Diese Produktion war teuer genug”, sagte mir der künstlerische Leiter, als ich bedauerte, daß die Gurrelieder nach der ganzen Arbeit nur zweimal aufgeführt würden. Wir müssen solche Konzerte als Geschenke begreifen, die uns – auch – unser Sozialsystem macht, und für die kleine Japanerin war es ein doppeltes – vielleicht, daß auch wir, manchmal nur einmal wieder, Dankbarkeit spüren?
Bis in die Zehenspitzen gespannt saß ich da, das ließ nicht ab. Ich wußte ja um beinah jede Tücke, jede Falle, und elegant, leidenschaftlich, beseelt spielten die Musiker darüber, als wären sie nicht da, hinweg. Zweimal vertat sich sekundenbrucheslang ein Einsatz im Blech, das ist auch schon alles, was zu erzählen wäre, daß es nicht geklappt. Man zuckt dann, das sind gefährliche Momente, weil sie einen aus dem Fluß kechern können, und dann liegt man da am Trockenen, als Fisch, und s i e h t den Fluß kaum mehr, der weiterzieht. Einmal verschleppte sich der ganze Apparat, da zog Zagroseks rechter Arm an, während seine linke Hand das Tempo fing und in die Bahn zurücktat… oh aber das gefächerte, aufgefächerte Sirren, die Tupfen der Flöten, diese Klarinette dann immer, das Englischhorn…und völlig über allem erhaben die Klagestimme Claudia Mahnkes. Vielleicht, daß Melanie Dieners Sopran eine Spur zu füllig für eine Tove ist, eine Spur zu sehr Bauch, um für ein Mädchen zu gelten, das diese Tove doch ist… aber was erzähl ich… Unfug, Beckmesserei! Denn vor mir saß eine Kritikerin, die schon in der Haltung nichts als Abwehr war und dann auch folgerichtig die Unart der Rezensenten mitdemonstrierte, daß man als solcher Künstler nicht beklatsche… welch eine Anmaßung! Mit Wollust denk ich daran, wie Stockhausen vor Jahren eine Kritikerin des Großen Saales der Alten Oper Frankfurt verwies, ich weiß noch ihren Namen… Fantastisch, daß sie von ihrem Edelplatz aufstehen mußte, bevor Stockhausen anfangen ließ, und daß sie, allen zweitausend Leuten sichtbar, hinausschreiten mußte… Was für ein Gerumpel dann um die Pressefreiheit losging… – L i e b e n Sie, worüber Sie schreiben, oder bleiben Sie weg! Sò.

Es war stumm, als der erste Teil des Stückes verklungen, es war fast eine Minute lang still… Dann aber doch Applaus, und die Pause. An sich wäre sie unnötig gewesen, wenn auch gut für des Tenores schöne Stimme. Wir aßen Brezeln, tranken Wein. – Zweiter Teil.

Er ist der propblematischste, und zwar, weil der lyrische Tenor hier aggressiv werden muß, weil er anklagt und weil das Orchester diese Klage so expressiv hochdreht. Da ist unendlich viel Balance-Arbeit vonnöten, ich hatte, geb ich zu, Angst vor diesem Part: Immerhin, stellen Sie sich das vor, war >>>> die Generalprobe am Vormittag die erste Durchlaufprobe überhaupt gewesen. „Wie hätten wir anders können? Es war teuer genug!” Welche Realitäten! Aufschrei im Orchester, hundertfuffzich Leute. Zagrosek geht in die Knie, eine Ebene Brust und linke Hand, das Orchester folgt, und Daniel Kirch klagt an: „Herrgott, wußtest du, was du tatest!” Daß er hier jetzt manchmal versank, wieder auftauchte, wieder unterging und dann aus diesem Tosen seine Stimme wieder hervorbrach, war dann genau das, was diese Stelle b r a u c h t: Nein, das ist eben n i c h t der Held, der das Unglück bannen kann, nein, er ist ja ganz d a r i n… und es hebt ihn an, er schwimmt, krault, bekommt Luft in die Lungen, spuckt, läßt aber nicht von seiner Anklage ab. Schlußakkord.
Atempause.
Der dritte Teil des Abends, im dräuenden Wagner-Celloklang anhebend, hebend ist falsch, darüber Tschinellen, die schon das Ungefähre ahnen lassen, daß dann gleich herausbrechen wird. Das Todes- und Trauerthema im Horn, ganz musikalisch, ganz vorsichtig von der Pauke unterlaufen. Dann erneuter Klageaufruf… nein, noch der tote Waldemar hat sich nicht abgefunden, n i e wird er sich abfinden, niemals. Seine Wut, über die die Fanfaren gehen, ruft die toten Männer herbei, den Ritt gegen den Himmel zu wagen… egal, was unter den Hufen zerspritzt. Ruhe. Schroffes, doch leise, Gestikulieren der Bässe, die Posaune nimmt das auf, worüber Beckmanns Knochenxylophon spielt. Da geht schon ein Wind, der Sturm wird. Ein Bauer rafft sein Zeug zusammen, um sich zu verstecken. Kräftig warnt Ralf Lukas, die Eisenketten hört man rasseln, Vorjahrslaub fliegt auf, schon das – leider doch immer noch zu milde, leider noch immer nicht häßlich genug – Rufen der Toten. Da schlägt Lukas seine drei Kreuze und hinter sich die Tür zu. Wie ein Nachhall, wenn er dasitzt zusammengekauert, die Oboe: Fernruf. Das Xylophon wieder drüber, und die Wilde Jagd schießt heran. Jetzt, nach dem rhythmischen Chaos gestern abend bei der Hauptprobe, gaben die estnischen Lungen her, was nur ging: und dann, meine Güte, ihre B ä s s e – abgesehen davon, daß ich mich plötzlich mitten in Mahlers Klagendem Lied wähnte, dessen Faktur den Gurreliedern nicht gänzlich unähnlich ist. D a r a n jetzt, und nicht mehr an den Fliegenden Holländer, dachte ich… falsch: daran fühlte ich. Schon der nächste Sturmesstoß. Er legt sich. Liebesthema in Bratschen und Cello, breit, satt, im schweren Blech der Orgelpunkt drüber. Debussy’sches Glitzern dann, Dank an diese Flöten, schwebend die Geigen mit einem, ich sag Ihnen!, S a m t. In diesen Momenten war das Orchester Berliner Philhamonie. Und Kirchs jetzt wagnerscher Tenor, doch ohne die Tumbheit, die Wagner ihm gern beigibt… k e i n Pubertierender singt hier halbstark von einem Leid, für das man ihm dauernd Clearasil reichen möchte… Wagners Tenorfiguren sind ja immer ein bißchen unerträglich in ihrer geistigen Halbpotenz, die sie durch Muskelspiel auszugleichen meinen. Schon Daniel Ohlmanns gehässiges Couplet, Unterhaltungston, schief gewitzelt von einer Traurigkeit, die sich aus lauter Not zur Humoreske macht. Es ist einfach grandios, wie dieser Sänger das stimmlich darstellt und wie Schönberg da ausgerechnet die Meistersinger hineinnimmt und das in einem mahlerschen Bläsersatz ganz kurz, ganz entschieden, auflöst. Und abermals Meistersinger, worauf spielt Schönberg bedeutend, zeigend, bloß an?: „Denn er war immer höchst brutal.” Und Gott? Er mag sich selber gnaden… – Tanz der Bläser, schattenhaft, auftrumpfend, rumbaartig, gehässig. Ruhe. Die Pauke, ankündigend aber nur, von Ferne, allenfalls Grollen, schon das, schriebe man bei Tchaikowski, „Schicksalsmotiv” – und die letzte Klage Kirchs, über das die Trompeten gehen. Man faßt es nicht, wie bei diesem Untoten, diesem Liebes-Ahasver, doch immer eine Helligkeit bleibt, nicht nur über Kirchs wundervolle, nie quäkende, niemals gepreßte Stimme, nein über den S a t z auch… und nochmal das Motiv, ausgespielt, im Horn versinkend. Celli, Bässe, das Blech gedämpft im Hintergrund in einer aufsteigenden Linie zum Holz, und flüsternd bemerken die Wilden Jäger, daß es am Horinzont hell wird… noch ist’s nur eine Ahnung: Sie sehen vielleicht auf das Nordmeer hinaus, dessen Bleifläche ein erstes Schimmern ahnt. „Die Zeit ist um.” Da legen sie sich zurück in ihre Gräber, um im Dunkel ein Vergessen zu finden, das ihnen niemals werden wird. Hier waren die Chöre unglaublich: da, wo geflüstert wurde, wo erzählt wurde, wo die Toten menschlich wurden. – Pauke, immer noch leise, dann Aufbruch in den großen Choral – eine Melodielinie, die den Sonnenaufgang schon vorausnimmt, aber im menschlichen Maß bleibt: das macht diese Stelle derart berührend. Und genau da, „Ins Grab…”, wieder diese estnischen Bässe, über die Schönberg den Männerchor ganz hoch hinübersingen läßt; bisweilen klingt das schon nach den Frauen. Die Bläser rufen, die Kontrabässe beschließen die Sequenz, darüber eine Oboe… Glissando in den Bläsern, vorsichtig ein Harfentupfer und hoch die Flöten.
Wie ein kleiner Schock, daß Zagrosek an genau dieser Stelle eine ausgehaltene Fermate einfügt. Das habe ich auf keiner der Proben gehört. Mehr als überzeugend, daß vor allem die Bläser den thematisch fast wieder untergegangenen Sonnenaufgang wieder aufnehmen, nun aber schon licht… jetzt ganz ein Debuys von La mer, was da herklingt… und übers schattenhafte Spiel geht, während die Geigen vorandrängen, ein An- und Wegrolln von Wellen. Abermals Auflösung, die Trompete schallt hinein. Wieder wird alles fast zurückgenommen, fermiert, dann abermals, darunter immer fast unhörbar die Pauke, Bläser, Udo Samel beginnt seinen Vortrag. Ich habe den Eindruck, daß Zagrosek hier schneller dirigiert als in den Proben, so daß Samel schon sehr rennen muß, um das Tempo zu halten; hier war jetzt leider, im Gegensatz zu vormittags, wo das Mikro, über das der Sprecher spricht, deutlich zu laut eingestellt war, die Verstärkung um zwei Spuren zu gering… so daß Samel seine Sätze nicht eigentlich formen kann. Nach dem herzrührenden „Still! Was mag der Wind nur wollen?” und dem vorerlösenden „längst sind sie Staub” und „ach, war das licht und hell”, worin er wirklich einmal Zeit hat – danach also verläßt er sich geschwindigkeitshalber vor allem auf die Jamben und akzentiert sie etwas z u sehr, er hält sich an ihnen wie an einem Geländer fest. Die ganze Partie ist sauschwer, er soll ja nicht nur im Rhythmus sprechen, sondern bisweilen auch Tonhöhen andeuten, nicht singen, nein, aber eben doch die Tonhöhen in die Kehle bekommen, so daß er da ein wenig ins Pressen gerät und sein „Erwacht” nicht gänzlich mit dem plötzlich ganzen, aufbrechenden, aufblühenden Chor legiert.
Dieses Aufblühen ist schlichtweg phänomenal. Doch dann. Das aber geht die Orchestermusiker nichts an, nicht Zagrosek, nicht die Sänger oder die Chöre. Sondern.
Schönberg selbst.
Indem er den Chor nämlich immer noch weiter und weiter aufblühen läßt, ihn immer weiter hochtreiben will und dabei gar kein Ende findet, kommt die erkomponierte Erlösung, die eben gar keine ist, so klebrig daher wie je nur Wagners Blumenmädchen, deren Erotik auch keiner glaubt. Hier wird nun einfach behauptet Es ist nicht mehr der S c h e i n von Sonne, nicht mehr ihr tatsächlicher, physischer, Glanz, sondern, indem sich genau das selbst spürt, will Schönberg überreden. Das Gurrelieder-Ende ist behauptete Massenutopie, nämlich nicht Utopie, sondern Wahn – gegen das sich schon anbahnende Unheil der Weltkriege gesetzt und ignorant gegen den Zerfall des Individuums zugunsten vorgeblicher Kollektive. Hier, in diesen letzten Takten, sind die Gurrelieder allerpompöseste Gründerzeit mit verlogensten Säulen und Putten – ganz so in Wahrheit häßlich, wie der DDR-Saal des Konzerthauses ist: Fratze, nichts sonst. Nicht der Sonnenaufgang selbst ist verlogen und also nicht das Glück, daß diese wüste Nacht vorüber – aber die kompositorische Insistenz auf Erlösung, diese musikalisch verordnete Glückseligkeit von Mengen. Hier auch, nirgenwo sonst, wird Schönbergs großes Stück ganz seltsam historisch und reinster Kitsch, eben deshalb, zugleich. Hier streicht die Musik alle ihre Feinheiten, Innigkeiten und wahren Empfindungen rücksichtslos durch. Hören Sie die trauernden Bögen der Geigen im Ersten Teil, Sie werden sofort erfassen, was ich meine. Denn Erlösung w a r ja nicht, war Waldemar nicht, war nicht seinen Leuten. Und wird nicht. Sondern sie treiben weiter glücklos umher: verflucht in alle Ewigkeit.

_______________________________________

Gurre 13 <<<< (Handlung und Deutung)

>>>> Die nächste Aufführung:
Heute, 13.06.10. 16 Uhr.
Karten 28 / 36 / 44 / 50 / 60 €

2 thoughts on “Die erste Aufführung (Premiere). Gurre (14). Konzerthausorchester Berlin, Lothar Zagrosek. Arnold Schönberg, Gurrelieder. Mit Melanie Diener, Claudia Mahnke, Daniel Kirch, Daniel Ohlmann, Ralf Lukas und Udo Samel.

  1. Loge 1 entgegen der anordnung saß ich in loge 1 , mitten im frauenchor. und die interferenzen der hyper-orgiastischen weiblichen stimmen waren so derart intensiv, dass es mich fast zerriss. diese monumentale kammermusik schönbergs ist das beste beispiel für den fakt, dass eine untergehende kultur, wie sehr tiefstehende sonnen, sehr lange und sehr viele schatten wirft. abgesehen von der durchtrainiertheit des orchesters, der makabren sprachgewalt U. Samels, der energie und akribie des dirigenten – und der saumäßgen akustik des saales (es kommt eben nicht darauf an, wo man sitzt: diese schauderhafte kopulation griechischer und wilhelminischer ästhetik) hat der pfau zum letzten mal seine federn gezeigt. diese musik ist so elitär wie dekadent, nicht zur zeit ihrer erstaufführung, sondern jetzt. sie ist das polymorph-perverse objekt der obsoleten pschoanalyse S. Freuds: ausdruck archaischer blutrünstigkeit & eleganz und hermetischer lumineszenz, der sehnsucht eines zeitalters, das in systematischer vernichtung des individuums & seiner infernalischen feier des verschwindens eskaliert. das querflötensolo im dritten teil, der endlos schwebende subkutane ton der wagnertuba, das alles lässt eine welt vermissen, die es zum zeitpunkt des entwurfs dieser musik noch nicht gegeben hat. das waren die letzten exzesse der ich-illusion des 19. jahrhunderts – und des vorgriffs auf die kollektive autohypnose des 21. jahrhunderts und seiner welpischen kombination aus wehmut, verlassenheit und ratlosigkeit. diese musik ist authentischer als wagner. alles in allem ein ungeheurer luxus. wie eine billige zigarre oder, wie lessing das den alten wolf, der dem jungen wolf eine lektion erteilte, formulieren ließ: man soll sich nur dann jagen wenn man KEINEN hunger hat.
    wir leben in einer welt grauenhafter omnipresenz aller bisher projizierter möglichkeiten.
    wir leben in einer letzten welt. wir haben das was uns gefällt delegiert an kretins, idioten und scheisshausquallen, die uns ersticken werden.
    ein weisser makelloser körper v. schlangenhafter geschmeidigkeit und transzendierender potenz, der imstande ist sich selber zu lecken ist das was wir Gott nennen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .