Erster Teil.
Der König Waldemar, verheiratet mit Helwig, hat sich in die junge Tove verliebt, die auf Burg Gurre lebt. Zu Beginn des Stückes reitet er durch den Wald am Nordmeer entlang zu ihr hin. Er ruft sie an dabei, vor Sehnsucht, und hört sie, in sich, wie sie vor Sehnsucht antwortet und steht auf der Burgmauer und schaut ihm entgegen. Die Nacht fällt über ihn, er bekommt es mit einer leisen Angst zu tun, so viele Schatten leben im Wald, die Liebessehnsucht verdüstert sich, auch wohl, weil diese Liebe nicht ganz gut ist, weil sie, auch, ein Betrug ist. Tove, in Waldemars Gedanken, beruhigt ihn aber, doch nimmt die Todesgedanken mit auf, umhüllt sie mit ihrer Liebe: wie auch immer, selbst aus dem Grab, wiederauferstünden sie und träfen sich, einander in die Arme schließend, wieder.
Das ist voll Vorahnung. Denn während Waldemar noch reitet, hat Königin Helwig ihren Vasallen – die Waldtaube nennt ihn ‚Helwigs Falke’ – ausgesandt, um die Nebenbuhlerin zu töten. Während sich das Geschehen begibt, oft schon im Orchester vorerzählt, lästert der gegen die Bedrohung durch Nacht und ihre Gespenster sich aufrichtende Waldmar Gott: Nicht einmal das Paradies sei so schön, wie Toves Umarmungen seien.Eine Taube fliegt über Land, Zeugin des Geschehens: Zeugin, daß Tove schon tot sei. Davon erzählt sie uns:
Weit flog ich, Klage sucht’ ich,
fand gar viel!
Wollt’ ein Mönch am Seile ziehn,
Abendsegen läuten;
doch er sah den Wagenlenker
und vernahm die Trauerbotschaft:
Sonne sank, indes die Glocke
Grabgeläute tönte.
Weit flog ich, Klage sucht’ ich
und den Tod!
Helwigs Falke war’s, der grausam
Gurres Taube zerriß.Zweiter Teil.
Waldemars Klage und Anklage, sowie seine zweite Lästerung Gottes:Falsche Wege schlägst du ein:
Das heißt wohl Tyrann,
nicht Herrscher sein!Gern wolle er Gottes Narr sein fortan, der ihm, wie der Narr eines Königs, fortwährend die wirklichen Wahrheiten sagte.
Das kurze Stück endet in einer Verzweiflung, die Verdammung bereits i s t.Dritter Teil.
Die Wilde Jagd beginnt: Waldemar wurde zu jenen toten Göttern und Helden verdammt, die für ewig, wenn der Wind geht und Sturm wird, a u f diesem Sturm suchend umherirren müssen – so, wie der Fliegende Holländer auf dem Meer umherirren mußte, dem immerhin e i n e Erlösung versprochen war, sofern er die eine Frau denn finde, die ihn liebte bis in den Tod. Jacobsen, der Textdichter, kennt diese Erlösung aber nicht, so wenig wie Schönberg: Verdammnis b l e i b t, nächtlich, denen, die so fehlten.
Das Stück beginnt damit, daß Waldemar aus seinem Grab heraus all die anderen Versammten herruft, zur Jagd ruft. Das ist für die Menschen schon in der gefährlichen Windstille zu hören, die den Stürmen vorausgeht; da verstecken sie sich in ihren Häusern und schlagen das Kreuz: der Bauer beschwört sein Apage! – Aber selbst die Kirche fürchtet sich noch, eine wirkliche Zuflucht ist auch sie wohl noch nicht:Sperber sausen
vom Turm und schrein,
auf und zu fliegt’s Kirchentor!Da antworten Waldemars tote Mannen, es antwortet die gesamte untergegangene vorchristliche Mythologie. Ein Gespensterchor ist’s, abermals den Gespenstermatrosen des Holländers nicht unähnlich. Das muß mit gewaltigem Schrecken gesungen werden hier, ist voller Not und zugleich voller Sehnsucht. Hier ist zu spüren, wie Angst in Aggression umschlägt, hier ist die völlige Verlorenheit fühlbar solcher, die nicht einmal mehr gehen, die ihre Not nicht enden dürfen. Ihre Verzweiflung dreht sich in den Wahn einstiger Macht:
Lokes Hafer gebt den Mähren,
wir wollen vom alten Ruhme zehren.Loke, Loki, das ist der Gott des Feuers, der bereits im Ring des Nibelungen seine hochgradig ambivalente Rolle spielt. Sein Hafer i s t das Feuer. Hier wittert sicher Prometheus nach, aber vor allem geht es um, das ist richtiggehend modern, Feuer & Flamme, nur eben als Gegenwehr derer, die weg„missioniert” worden sind, als deren Djihad – jedenfalls: Z e r s t ö r u n g kündet dieser Sturm an – dem obendrein noch GOtt den Narren schickt: Klaus-Narr, der, das eigene Elend verulkend, der Wilden Jagd voranreitet, doch umgekehrt auf dem Pferd: so, daß ihn die Verdammten auch vernehmen können, die er in seinem Couplet verhöhnt wie sich selbst. Interpretativ ist dies die spannendste, nämlich eine hochgradig ambivalente Erzählung. Indem Klaus-Narr am Ende seines Monologs GOtt nämlich zurückhöhnt und damit dann d o c h zeigt, zu wem er gehört: zu den Verdammten selber nämlich. Klaus-Narr, das ist poetologisch berauschend, höhnt, indem er den Reim höhnt, also der harmonia caelestis:
Ja, wenn es noch Gerechtigkeit gibt,
Dann muß ich eingehn im Himmels Gnaden…
Na, und dann mag Gott sich selber gnaden.Wenn Du mir, heißt das, Du GOtt, wenn Du mir endlich d o c h Erlösung schenken solltest, werde ich mich rächen: Gnade Dir, GOtt, Gott! heißt das. Und Waldemar, dem ganz entsprechend, kündigt an, er werde mit Feuer und Schwert den Himmel erstürmen…
Doch es wird Tag, der Sturm legt sich, die ersten Tautropfen blitzen, und die Wilden Jäger müssen zurück in ihr Grab. Friede wird, man hört die ersten Türen quietschen, Rolläden werden geöffnet, und das Blinken und Surren, das frühe Vogelzwitschern, die ersten summenden Bienen – all das aufersteht nun wieder: der Tag. Der Sprecher tritt auf und erzählt, erzählt in hüpfenden märchenhaften, auch komischen Worten, erzählt persiflierend, erzählt menschlich berauscht… wie die Not abfällt:Welch Ringen und Singen!
In die Ähren schlägt der Wind in leidigem Sinne.
Daß das Kornfeld tönend bebt.
Mit den langen Beinen fiedelt die Spinne,
und es reißt, was sie mühsam gewebt.
Tönend rieselt der Tau zu Tal,
Sterne schießen und schwinden zumal;
flüchtend durchraschelt der Falter die Hecken,
springen die Frösche nach feuchten Verstecken.
Still! Was mag der Wind nur wollen?Der Wind, ja, in dem die Klagen der Nacht noch wie Echos verflirren… als sich die Sonne über den Horizont hebt, langsam, gewaltig, strahlend – Mit einem Sonnen-Hymnos endet das Stück.
Um zu verstehen, was alles in Schönbergs Gurreliedern mitschwingt, ja mitverhandelt wird, hilft es, neben der erzählten Geschichte-selbst, ein paar der alten Mythen zu kennen, die zur Zeit der Erzählung immer noch wirksam waren im Volk und es teils heute noch sind – bis hinein in den Genre-Spielfilm und viele der heutigen Computerspiele. Vorbei ist das nicht.
In den Rauhnächten, jenen, die auf Weihnachten folgten, hieß es, daß die eisigen Stürme in Wirklichkeit Wotans Mannen waren. Seine zwei Raben flogen meistens voraus. Weihnachten ist ursprünglich ja kein christliches Fest, es ist das Fest der Wintersonnwende, von dem an die Tage länger werden – aber ungewisse Tage erst einmal, verdrängte Tage, da das vorchristliche Jahr Mondjahr, nicht Sonnenjahr war und mit zwölf Mal 28 Tagen, zwölf Mal dem weiblichen Zyklus, genau 360 Tage hatte. Daraus ergaben sich Zwischentage – witzigerweise auch im französischen Revolutionskalender, der fast die selben Tage Sansculottiden nannte -, die von „Zwischenvölkern” bewohnt waren – so, wie die anderen beiden markanten Punkte des Jahres Walpurgis und Samhain, das christlich zu Allerseelen wurde und als unheimliches Datum heute noch in Halloween weiterwirkt („Hallo”, englisch gesprochen, kommt von „Hulda” her, nämlich von Wotans, bzw. Odins Gemahlin). Übrigens gibt es eine starke mythologische Verbindung auch von Rabe zu Taube, auch hier „übernahm” das Christentum, eben nicht nur Feste, sondern auch Symbole. Ich habe jetzt nicht die Zeit, Ihnen die Verbindungslinien zu erläutern, aber ich möchte gerne, daß Sie ein wenig den Bedeutungshof verstehen, worin sich die Gurrelieder abspielen. Daß die Wilde Jagd, schließlich, von den Rauhnächten auch auf andere Sturmnächte überging, ja zur Verlebendigung gefürchteter Naturerscheinungenn generell wurde, ist eine Folge der, aus heidnischer Perspektive, Säkularisierung des alten Glaubens (wobei der alte Glaube imgrunde schon falsch, nämlich monotheistisch gedacht ist).
Noch ist die Christianisierung, die durchaus nicht gewaltfrei ablief, nicht völlig verankert: die neuen Machthaber müssen noch A n g s t vor dem Alten haben – und machen sie also dem Volk. So kehrt sich Wotans Wilde Jagd in eine von Verdammten herum, und wer sie sieht, wird von ihr bestraft: als Abfälliger nämlich, als ein Verräter. Doch nur im Sturm läßt sich diese alte Macht, die zu fürchten ist, momentlang wiedererstehen, und wer immer vor der neuen Religion die Knie gebeugt hat – allein, weil er nicht gefoltert werden wollte, zum Beispiel -, tut gut daran, sich zu verstecken. Dies verdeutlich in den Gurreliedern ausgesprochen gut der Part des Bauern. Er weiß wirklich nicht, was tun, wird zwischen den Mächten einfach zerrieben. Denn es ist ja nicht so, daß die alten Mächte besonders mild mit ihm umgesprungen wären. Grausam., so oder so, ist es für den einfachen Menschen immer geblieben. Er muß sich zwischen Erhängen und Köpfen entscheiden. Was er nicht kann. Niemand kann das, wenn er überleben möchte. Also versteckt er sich und macht die Türen zu. – Zur Rolle des Narren habe ich oben schon genügend gesagt. Dann aber die Sonne. Eben nicht mehr der Mond, nicht mehr das ungewisse Licht der „Zwischenvölker”, sondern die klare Strukturiertheit, die Überwältigung durch Aton bricht sich ins Leben. Sigmund Freud, in seinem großen Moses-Aufsatz, beschreibt dies so:
Damit möchte ich denn meinen kleinen Interpretationsaufsatz beenden: ich denke, er gibt Ihnen genügend an die Hand, um Schönbergs großes Stück auch in einigen Details heute abend ganz zu begreifen: Liebe >>>>MelusineB, ist dies gut so?
fragt und grüßt von Herzen:
ANH.
>>>> Herbst & Deters Fktionäre.
P.S.: Auf die vielen sprachlichen Spiele mit den Bedeutungen von Gurre, gurren, Taube, Tove – man kann dem >>>> quer durch den vertonten Text nachspüren – und damit auf die Verwischungen und, sic!, Assonanzen, nämlich semantischen Anklänge habe ich während meiner Proben-Erzählungen schon immer wieder hingewiesen. Das lese dann, wer mag, dort nach.
_______________________________________
Lieber Herbst, wie das nun einmal ist, wenn das Denken beginnt – wobei ich nicht weiß, wie weit sie unterdessen mit Ihrer uns alle brennend interessierenden Körperpflege (Arbeitsjournal von heute) vorangekommen sind und ob Sie meinen Einwurf insofern noch rechtzeitig lesen können, – dennoch –
da Sie selbst eine semantische Deutung der Assonanz von “Tove” an “Taube” nahelegen:
Kann man nicht ganz umgekehrt Tove eben als Vertreterin des Christentums deuten, für das die Taube kekanntlich steht? Dann hätten wir, auch was die Verdammung Ws angeht, eine geradezu umgekehrte Folgekette: W verriete dann nämlich die alte Religion, für die seine Gemahlin Helwig noch steht – denken Sie an die Bedeutung von “Hel”! -, und die Ermordung Toves wäre genau etwas, das Ortrud, von der Sie, glaube ich, ebenfalls schon mal sprachen in einem Ihrer Probenberichte, im Lohengrin im Sinn hatte –
Dann machen Sie es sich mit der zeitlichen Verortung etwas einfach: Jacobsens Text bezieht sich erst einmal auf Waldemar IV (1321-1375), der tatsächlich auf Gurre lebte. Da lag die Christianisierung nn wirklich schon lange zurück. Symbolisch ist aber sicher Waldemar I gemeint und damit der Anfang der 12. Jahrhunderts. Dennoch war die Christinisierung Dänemarks mit Ludwig dem Frommen, danach aber besonders mit der Vertreibung der Wikinger sowie mit der Taufe Harald Blauzahns imgrunde vollzogen – das war rund 150 Jahre vor Waldemar. Ich weiß, daß mythologische Zeiten anders funktionieren – in Deutschland hat der Barbarossa-, bzw. Friedrich-II-Kyffhäuser bekanntlich bis zu Hitler weitergewirkt. Dennoch werden, wenn man die Geschehen konkreter in den Blick nimmt, als Sie das in Ihrem Text tun, auch die Deutungen bedeutend schwieriger. Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr rein poetisches Spekulieren zulässig ist.
À propos meine ich, daß Sie Ihr häßliches Wort “Interpretation” aus genau diesem Grund durch das Wort “Deutung” ersetzen sollten. Es liegt näher an dem, was Sie in Ihrer Einführung tun. Soviel ich weiß, verwendet auch der von Ihnen so geschätzte Freud dieses Wort lieber.
@Deters. Danke für den Einwurf. Ich werde darauf nachher reagieren, wenn ich meine Beschreibung des gestrigen Abends geschrieben haben werde – was ich jetzt gleich, noch vor meinem Arbeitsjournal, tun will.
(Sonntag, 13.6.2010, 8.06 Uhr).
Wilde Jagd – und ein Gewitter Das ist, lieber Herr Herbst, gut s o. Und in jedem Falle “zulässig”, auch wenn Herr Deters dies in Zweifel ziehen möchte. Recht gebe ich ihm allerdings, dass das schöne Wort Deutung angemessener ist als die (Oberstufenklausuren-) Interpretation. So viele Anregungen stecken in Ihrem Text und – andersrum – auch wieder in der Entgegnung von Deters. Die Verwerflichkeit der Christianisierung und die Verworfenheit der vorchristlichen Mythen, Enthusiasmus und Torheit, Lust und Angst, Macht und Spiel – wie dies zusammen gehört und miteinander ringt…
Ich werde jetzt lesen. Das Grimmsche Wörterbuch daneben legen. Und hören. Das auch. Danke.
Ganz spontan drängte sich beim Lesen eine Erzählung meines Vaters auf: Wie erschrocken er gewesen sei, als er eines Nachts mit seiner kaum zweijährigen Tochter auf dem Arm am Fenster gestanden habe. Draußen habe ein heftiges Gewitter getobt. Das Kind habe die kleinen Füßchen aufs Fensterbrett gestemmt und jubelnd mit den Fäustchen gegen die Scheiben getrommelt, freudig spitze Schreie ausstoßend. Mit jedem Blitz und Donner sei es wilder geworden und lustiger, laut gelacht habe es und sich gar nicht beruhigen können. Dann sei die Mutter hereingekommen, habe das Licht im Zimmer eingeschaltet und ihn gescholten: wie er das arme Kind so ängstigen könne. Da erst habe das Mädchen, nachdem es die geblendeten Augen wieder aufgeschlagen habe, begonnen zu weinen.
Von Lichtenberg stammt, glaub ich, der Vorschlag alle schreienden Mägdchen zu ersäufen.
Fragebogen: Was wollten Sie niemals sein? Magd Mag(d) sein, dass der kleine Göttinger in seiner Frustration das schrieb, waren ihm doch die Mägdlein nicht immer so gewogen, wie er´s ersehnte und musste er sich deshalb an die Mägde halten.
@ Herbst & Deters Schade, Herr Herbst, dass Sie die “Gurre-Lieder” über haben. Ich hätte gerne gewusst, was Sie Deters zu erwidern haben.
@Henze Dies Wort von G.C.Lichtenberg möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, da es mir so trefflich zu passen scheint: “Er war zwar etwas unpoliert, aber würklich ein rechtes Zebra unter den Eseln, oder unter seiner Gesellschaft.”
http://www.youtube.com/watch?v=60p7Lx7R3VE