A u s, die Zone; aber nur im BUCH ÉNARD. Das Ameliajournal des Sonntags, dem 24. Juli 2011. InniTalien (8) mit Porchetta und einer Nachricht Frankfurtmainer Freunde: Siamo à Poggiolo.

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… – mir fiel wieder der Bericht von Archibald Rudolph Reiss aus dem Jahr 1915 ein, der Ewigkeiten lang von der Propaganda benutzt wurde, diese aufgeschlitzen Männer, Zivilisten mit ausgestochenen Augen, mit dem Bajonett aufgeschnittene Vaginen, damit der Samen von Dutzenden von Soldaten abfließen konnte, abgeschnittene Nasen, ausgerissene Ohren, alles festgehalten mit der wissenschaftlichen Unberührtheit des Kriminologen, daß der Bericht von dem einen wie vom anderen Lager genutzt wurde, nimmt dem Zeugnis nichts von seinem Wahrheitsgehalt, davon zeugt auch die Heftigkeit der Rache, des Hasses dessen, der daran glaubt, dem Haß gegen seine Feinde, für den er Jahrzehnte später büßen muß aus Angst, Angst vor der Tradition, Angst vor der Legende, die auch ihn dazu bringt, mit dem Messer in der Hand auf den anderen loszugehen, wie die Berichte über serbische Greueltaten uns in der Angst dazu brachten, ihre Leichen zu zerstückeln, wohl weil wie befürchteten, solche Krieger könnten sonst wiederauferstehen, in der nicht abreißenden Kette von Massakern zwischen Serben und Kroaten bestätigte jedes Blutbad den Bricht über das vorausgegangene, ohne daß einer im Unrecht gewesen wäre, denn jeder konnte, nach dem Muster der Österreicher in Serbien, auf eine Greueltat verweisen, die das andere Lager begangen hatte, der andere in uns selbst, man mußte sein Menschsein ausradieren, indem man ihm das Gesicht herunterriß, ihn daran hinderte sich fortzupflanzen, indem man seine Hoden abschnitt, ihn verseuchen, indem man seine Frauen vergewaltigte, seine Nachkommen vernichten, indem man Brüste und Schamhaare abschnitt, an den Nullpunkt zurückkehren, die Angst und den Schmerz aufheben, die Geschichte ist eine Erzählung von reißenden Tieren, ein Buch, in dem auf jeder Seite Wölfe vorkommen, Tschedo der böse Wolf wird dir die Kehle durchbeißen, mein Kind, er tut es ganz sicher, so sicher, wie du selbst es, wie er glaubt, getan hast, du hast schon seine plärrenden Sprößlinge in der Feuergrube verbrannt, die Gemeinschaft beruht bei uns auf Erzählungen über den Schmerz des Einzelnen, den Ort, an dem die Toten, die Leichen liegen, nicht Kroatien blutet, sondern die Kroaten, unser Land ist dort, wo unsere Gräber sind, unsere Mörder, die Mörder von der anderen Seite des Spiegels, warten auf ihre Stunde, und sie werden kommen, sie werden kommen, weil sie schon gekommen sind, weil wir schon unterwegs waren, um ihnen die Ohren zu kupieren, unsere Pflöcke in den Bauch ihrer Frauen zu rammen und ihnen die Augen auszureißen, eine Welle brüllender Blinder wird aufbranden und nach Rache schreien, sie werden kommen und ihre Gräber und die Gebeine ihrer Toten verteidigen, das ist so sicher, wie Ebbe und Flut den Bewegungen des Mondes folgen, ich möchte mich wirklich in meine Kiste setzen und durch das Land meiner Feinde fahren, in Belgrad mir im Zemun einen kleinen Birnenschnaps genehmigen und beobachten, wie die Save die Donau verbreitert, schauen, ob die Mädchen schön sind, den Turbo-Folk von Ceca, der vollbusigen Ehefrau Tiger Arkans, hören, mir ein T-Shirt mit dem Konterfei von Milošević oder Mladić kaufen und ein paar Witze reißen, lachen bei der Vorstellung, daß der Kellner mich noch vor einigen Jahren bei Osijek vielleicht ohne mit der Wimper zu zucken abgeknallt hätte und daß das jetzt vorbei ist, jetzt sind die Kosovaren an der Reihe, dann werden sich die Albaner rächen und die Orthodoxen zum Frühstück verspeisen, wir sind alle aneinander gebunden durch die unauflösbaren Bande des Heldenbluts, durch die Intrigen unserer eifersüchtigen Götter, jetzt ist Schluß damit, nach ein paar Jahren Fegefeuer in einem Büro zwischen Aktenbergen sitze ich im letzten Zug vor dem Weltende, vor dem großen Licht und dem Neubeginn, wenn es in den Hügeln der Toscana Zebras geben wird, Zebras Gazellen und Löwen, die von Zeit zu Zeit einen verirrten Touristen fressen, wenn man herrlichen norwegischen Wein trinken wird…
Mattias Énard,>>>> Zone, 446-448, dtsch. von Sabine Müller und Holger Fock.
17.30 Uhr:
[Il Cortile di Amelia.]
Seit sieben Uhr morgens habe ich gelesen, anfangs noch auf den zwei Stufen zum Wohnungseingang sitzend, wie morgens hier stets, den Caffelatte neben mir bei einem ersten Cigarillo oder der Morgenpfeife, unteraufhaltsam weitergetrieben durch dieses Buch, auf dem Liegestuhl dann, als die Sonne über die Mauern lugte, unterbrochen nur von einer Rasur des Gesichts und des Schädels, der Achselhöhlen, der Hoden, wieder zurück an den Text, der alles so vernichtbar zeigt, so die kosmetische Bemühung beinah ins Lächerliche zieht, die dennoch als Haltung bereit ist, wie immer schon Menschen gegen das soeben auf Zeit unterbrochene Elend ihre Gärten pflegten und die Mode, gegen das Elend und den ohnedies nahenden Tod, und ihre Kinder, gegen den Tod, die er, wenn sie viel Glück haben, nicht vorzeitig holt und nicht im Gram des Verlusts ihrer selbst, der Verstümmelungen, gehobener Arme zum Sieg, den auch wir ausrufen würden, wär es denn plötzlich wieder die Zeit (wider die Zeit) – am nahsten, was dem kleinen Geheimagenten Énards ebenfalls das Nahste: die Geschichte, die ein anderer schrieb, der kämpfenden Palästinenserin und ihres gefallenen, die Beine im eigenen Kot, Geliebten, den sie zuletzt, sie allein, wäscht, bevor ein Genosse hereinbricht, um sie zu vergewaltigen, was er nicht schafft, auch nicht „schließlich”, weil eines andren Genossen Schuß ein Gehirn an die Wand spritzt – hier eben doch Personen, die sich, durch die Macht der Erzählung, herausheben, Individuen wurden noch nach dem Sterben — weitergelesen, immer weiter bis in die Coda, die schließlich ein wenig abfällt, weil es zum Showdown nicht kommt, sondern sprichtwörtlich sitzenbleibt, nicht mehr weiterwill, nur sitzenbleiben will in einer Wartereihe auf Kunstflies, „er sieht mich mit unendlichem Mitleid an, plötzlich bietet er mir eine Zigarette an, er fragt, eine letzte Kippe noch, Kamerad, vor dem Ende?, eine letzte Kippe vor dem Weltuntergang.”Ich bin ein wenig erschöpft von dem Buch, das eben nicht ‚historisch’ ist, sondern allernaheste Gegenwart von der Westbank bis Guantánamo; zieht man von Berlin nach Rom eine Achse und knickt Europa darüber, kommt Beirut auf Barcelona zu liegen… furchtbar eindrücklich, das Bild, nie wieder zu vergessen, und nicht nur dies, sondern zugleich die Achsen der Geschichte, über die wir die unsere, eigene, knicken können, so daß auf Belgrad Troja liegt, London auf Rom, und Polen, ganz fast, erstickt unter dem Mörderheer Alexanders, man könnte sagen: Hitlers des Großen, wenn er nicht verloren hätte zu unserem (doch vielleicht bereits fliehendem) Heil.

20.08 Uhr:
[Kardinalsküche an Händel: Belsazar, den ich dem Freunde überspielt.]
Dann waren wir, mittags, noch zwischenhinuntergefahren, aus dem alten Ort hinaus an eine alte Mauer, davor ein offener Verkaufswagen stand und eine Bäurin vom Ferkel schneiden ließ, dessen Kopf deutlich sandbraun im Anschnitt: „Wollt ihr von allem, gemischt?” Wollten wir, und sie schnitt. Ich lugte zu den Pecorini, orderte noch Pecorino fresco, sowie ein halbes Brot, weil ich das italienische Brot, das derart große Poren hat, so mag. Und ich lud dann alle zum Eis ein. >>>> Parallalie nahm ein ganz kleines, mein Junge eine Riesenportion, ich selbst drückt mich dazwischen herum. Auf dem spärlichen Flohmarkt fanden wir Calassos großartige >>>> Hochzeit von Kadmos und Harmonia in einer elend überteuerten, weil restlos abgegriffenen Taschenbuchausgabe; man finde das Buch nicht mehr, behauptete die so untersetzte wie uninformierte, was nun wie „uniformierte” aussieht, jedenfalls laiige Verkäuferin, so daß wir Abstand nahmen; ich hab’s ja eh, seit es mir, vor Jahren, >>>> Katharina Hacker an mein hartes Herz gelegt (ich begann damit, dem Buch ein Register zu schaffen, aber kam nie zuende; schon, weil mir klar war, Suhrkamp hätt es als GoA aufgefaßt)… aber ich hab’s nur auf deutsch.
Und wieder hinauf, in die Zone, die den Cortile einnahm, als die Frankfurter Freunde SMSte, sie seien in Poggiolo angekommen, das anderthalb Autostunden von hier entfernt liegt; wir hatten geplant, uns zu treffen in Italien, aber dem Freund ist es nun zu weit, seines plötzlichen Übersetzungsauftrags halber, der hereingeschneit mitsamt dem Termin… und ich hab ja kein Auto. Also werd ich nachher von Umbrien in Italien über Deutschland nach Umbrien in Italien telefonieren: vielleicht mögen ja s i e hierher kommen.
Im übrigen wird jetzt gekocht, na, angerichtet inklusive der Ferkelerwärmung. Indessen draußen, vom Himmel, ein Auto in den Hof fiel, dem, als ich die Beifahrertür geöffnet, Millionen Frösche entsprangen, als wären sie und nicht es >>>> magnoliensch auf uns geklatscht. (Ein ungemein sinnliches Gespräch mit der Löwin schloß sich da an, worin sie die Piercings, skypend, nicht wollte – aus dem intimsten Grund, den unser aller Seele weiß.)

Sie sollten >>>> Bruno Lampe lesen.

3 thoughts on “A u s, die Zone; aber nur im BUCH ÉNARD. Das Ameliajournal des Sonntags, dem 24. Juli 2011. InniTalien (8) mit Porchetta und einer Nachricht Frankfurtmainer Freunde: Siamo à Poggiolo.

  1. Wie unheimlich mir das ist: Dass Rom auf London zu liegen kommt – in diesem Bild. Und so als hätte d i e das immer schon gewusst, wovon ich (bestimmt) keine Ahnung hatte:

    “Er bat sie nach Rom zu kommen. Wieder. ´Ich war noch niemals in Rom.´ ´Du weißt auch, warum.´ Die Unterwelt von London jedoch hatte sie erkundet. Sie schwamm durch die Themse und nahm sogar die Schleusen. ´London wird untergehen, auch die Barrier kann es nicht retten.´ ´Das hast du gesehen?´ `Ich war dabei.´ ´Doch mich jagst du nach Rom.´ Sie wusste, dass Heilmann Recht hatte. Es gab keinen anderen Rückweg. Doch fürchtete sie sich davor, ihn so hohl und nackt zu sehen. Sie wollte die Illusion erhalten, auf der die Liebe wie auf einem Sockel bleibt. In Wirklichkeit lag Rom längst schon in Trümmern. Die Barbaren hatten gesiegt. Titten und Ärsche auf allen Kanälen. ´Eben drum, sagte Heilmann. ´Drecksack.´”

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