Liliana Ahmetis Warum ich kein Model geworden bin. EPILOG

EPILOG

Ich habe mit allem möglichen gerechnet, aber nicht damit. Meine Kleine, du warst immer überspannt. Aber das hier hätte ich nicht erwartet: ich kann es nicht glauben. Es kommt mir vor wie ein Albtraum. Und wahrscheinlich ist es auch einer. Gut – ich bin hier hereingekommen, nach Jahren, in denen du nicht wissen konntest, wo ich war, ob es mich überhaupt noch gab. Und du servierst mir einen toten Schriftsteller, der angeblich dein Geliebter war, und mit dem du einen Liebesdoppelselbstmord begehen wolltest. So etwas sieht dir ähnlich. So etwas passt ganz und gar zu dir.
Ihr hattet ja alle immer schon eine ganz besondere Beziehung zum Selbstmord. Du bist ganz nach deinem Vater geraten. Da wo wir herkommen hat man die Leute noch ganz einfach umgebracht. Auf die gute alte Art. Warum musstet ihr die Klinge gegen euch selbst richten? Wir kommen aus verrückten Verhältnissen, ja, das ist schon wahr. Aber das hier – was soll ich davon halten? Ich habe alle bedruckten Seiten und deinen Computer eingepackt und mitgenommen. Ich habe mich in ein Café gesetzt und alles gelesen. Und je mehr ich gelesen habe, desto mehr glaube ich dir – und ihm. Ihr habt bekommen was ihr wolltet. Ich verstehe es nicht, aber ich habe Verständnis dafür. Ich bin eine Mutter, ich war dir vielleicht eine schlechte Mutter. Aber ich war eine Mutter. Und Mütter glauben ihren Kindern am Ende. Junge Hühner legen Eier – alte Kühe geben Milch, sagten sie bei uns.
Jetzt schreibe ich mit dem alten sozialistischen Füllfederhalter, den mir dein Vater vor mehr als dreissig Jahren geschenkt hatte, auf die Rückseiten der Seiten was ich zu sagen habe. Ich glaube nicht, dass du tot bist, Liliana. Nicht solange ich das schreibe.
Die Nacht in der ich dich empfangen habe war eine Gewitternacht im August. Das kleine Zimmer in dem Bauernhaus in den Bergen war taghell und pechschwarz. Und ich konnte dich für Sekunden sehen, lange bevor ich dich zu sehen bekam. Jeton war die Süße meines Lebens. Seine Blindheit machte ihn mir nur noch noch süßer. Du warst ein Kind der Süße. Nachdem sie ihn getötet hatten hasste ich dieses Land. Und dieser Hass gab mir die Kraft, mit dir wegzugehen, nach Deutschland. Ich dachte, hier wärest du sicher und könntest aufwachsen wie eine Blume. Ich wollte, ich könnte in diese Zeit zurückgehen und noch einmal reden mit dir, deine Stimme hören, die mich immer dazu brachte zu antworten, wie der Gesang der ersten Nachtigall im Mai. Erinnerst du dich als wir einmal am Meer waren in der Nähe von Shengjin oben im Norden. Du warst knapp vier Jahre alt damals. Jeton war mit dir im Wasser. Die Wellen waren an diesem Tag recht hoch, und er verlor dich aus seinen Armen. Erinnerst du dich? Ich stürzte ins Wasser und fand dich nicht. Und dann tauchte ich und sah deine Augen in der Tiefe des Blaus und schnappte dich wie einen Tintenfisch und zog dich nach oben. Und du schautest mich an als ob du mich noch nie zuvor gesehen hättest. Als ob du da unten wirklich ein Tintenfisch hättest werden wollen. Erinnerst du dich? In dieser Nacht hielt ich dich im Bett so fest in meinen Armen, so fest. Und ich weinte. Und du wusstest nicht warum. Und Jeton stand am Fenster und weinte auch. Es war so heiss und der Duft seiner Orient-Zigaretten würzte das Zimmer. Und er sagte: ich könnte ein Bär sein – und ich brummte wie ein Bär – und du lachtest. Und er sagte, ich könnte eine Frosch sein – und ich quackte. Und er sagte, ich könnte ein Indianer sein – und ich jellte wie ein Apache. Und er sagte, ich könnte ein Helikopter sein – und ich ratterte los – und du lachtest dein kristallnes Lachen. Wir waren in einem Nest, wir waren eine Familie, vielleicht die beste die es jemals gegeben hat. Liliana – warum hast du das getan? Warum habe ich das getan? Warum habe ich dich verlassen? Ich bin eine alte Frau, die alles verloren hat, alles – bis auf ein paar alte Erinnerungen.
Ich lebe mit einem Mann in Białystok in Polen. Er ist ein Psychiater in einer Irrenanstalt. Ein gebildeter sanfter Mann, ein guter Mann, der mich nie nach den Dingen gefragt hat, die ich ihm nicht sagen kann. Ich habe ihn gern und ich werde zu ihm zurück gehen. Ich war eine fast erfrorene Schlange, die er an seiner Brust wärmte. Du kennst das alte Märchen der Cherokee: als die Schlange am Feuer wieder auflebte, biss sie ihren Retter, aus purer Dankbarkeit. Alte Leute werden egoistisch. Aber das Weibliche verschwindet nicht aus mir. Es verwandelt sich in Etwas, das manche alte Männer zu schätzen wissen. Sie sehen dich an – und du weisst: sie sehen etwas in dir, das nicht mehr zu sehen ist. Und trotzdem begehren sie es. Und das macht sie schön. Es ist nicht alles eine Frage des Stolzes. Aber du bist jung. Und der Stolz der Jungen ist ein anderer als der der Alten.
Ich habe jeden Tag meines Lebens an dich gedacht, meine Kleine. Es gibt Dinge im Leben einer Frau, die es im Leben eines Mannes nicht gibt. Sie haben deinen Vater getötet, den Mann den ich liebte. Sie haben mir alles genommen. Jeton war ein Mann, den die Frauen lieben mussten. Sie konnten nicht anders. Auch ich konnte nicht anders. Aber es waren die Männer, die das nicht ertragen konnten.
Der Sozialismus hat die Männer nicht gezähmt, er hat sie nicht zivilisiert, im Gegenteil. Denn auch der Sozialismus war eine Erfindung der Männer. Die Frauen haben nie an den Sozialismus geglaubt.
Ich stand mit Jeton eines Tages an einem reissenden Fluss. Ich sah das Rauschen des Wassers, er hörte es. Wir tranken Wein, den schwarzen Wein aus den Bergen. Wir tranken ihn aus einem silbernen Becher. Der Fluss rauschte und wir, wir wurden betrunken. Jeton warf den Becher in den Fluss. Ich sehe den Becher immer noch am Grund des Flusses liegen. Ein Krebs hat ihn zu seinem Haus gemacht. In dieser Nacht, mein Liebling, bist du in diese Welt geschlüpft, das Süßeste was ich je hatte. Du gingst durch mich hindurch wie sein Atem. Ich hatte kaum Schmerzen bei deiner Geburt. Ich atmete dich aus. Als Jeton dich zum ersten mal in seinen Armen hielt beneidete ich ihn um seine Blindheit. Er roch und schmeckte dich, er atmete dich ein. Alles in uns war Atem.
Jeton hatte eine Narbe in seinem Nacken. Sie hatte die Form einer Sichel. Wie oft habe ich sie geküsst, wie oft. Ein Kind hatte sie ihm geschlagen. Selbst die Kinder hatten ihn umbringen wollen, weil er anders war als sie, weil er nicht sehen konnte, was sie sahen, weil er Dinge sehen konnte, die sie nicht sahen. Kennst du das Stabat Mater von Karol Szymanowski? Ich höre es immer wieder. Ich höre seine Stimme in ihm. Alles spiegelt sich in allem.
Und ich glaube, du hast das vor kurzem gelernt.
Ich kann nicht glauben, dass du tot bist, ich kann es nicht, mein Schatz.

Ich habe dich mehr als Alles geliebt. Deswegen habe ich dich verlassen. Ich hätte dich sonst erstickt mit meiner Liebe.

Auf der anderen Straßenseite ist das Büro einer Zeitung, jedenfalls sieht es so aus, als ob es das Büro einer Zeitung wäre. Ich werde den ganzen Stapel Papier dort abgeben. Was du geschrieben hast, meine Kleine – und was er geschrieben hat, das soll nicht verloren gehen. Sie sollen es an einen Verlag schicken. Sie sollten es drucken. Du hast ein Buch geschrieben, mein Liebling, mit dem Blut deines Herzens. Ich bin so stolz auf dich. Ich kann es nicht glauben, aber es ist wahr.

Ich muss jetzt gehen.

FINIS

© Liliana Ahmeti, Lasko Behringer, Marsela Ahmeti, Juni 2011

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