Krausserjournal: Zwischenruhe mit liebevoller Buchempfehlung. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 19. November 2011. Sowie ein Ab- und Angesang.

6.32 Uhr:
Das Typoskript des >>>> Hörstücks ist definitiv fertig; die Löwin las gestern abend gegen: „Jetzt bin ich gespannt, wie das klingen wird.“ „Und ich erst!“ Zweidrei Korrekturen, nur ein einziger Einwand, da, wo ich einen gönnerhaft herablassenden Kritiker namentlich genannt und ihm eine Ohrfeige gegeben hatte. „Sie werten ihn damit auf, nehmen Sie das raus.“ Daß solche Leute für ihre „Urteile“ nie einstehen müssen! Aber die Löwin hat wahrscheinlich recht, also formulierte ich die Stelle um; sie ist für das Stück auch nicht notwendig, zieht nur die Ignoranz ins Licht, mit der so viele von uns umgehen müssen. Ich hätte sowieso, wenn, dann alle nennen müssen, die an dem bösen Spiel beteiligt sind, und dazu reicht wirklich die Sendezeit nicht. Einen einzelnen herauszuheben, verkleinerte Kraussers Bücher unangemessen. Ihm selbst freilich wird nicht gefallen, daß ich „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ von 2009 als einen Ausrutscher abtu, für den ich den Roman aber halte; jeder so hochproduktive Autor hat das Recht auf mal ein holziges Buch. Während wiederum mir nicht gefällt, daß überhaupt kein Raum war, auf eines der mir liebsten Romane Kraussers einzugehen, leichtfüßig und doch auch traurig, anrührend und begeisternd, märchenhaft und doch von konkretestem – ja: von einem dickens‘schen Sozialrealismus, >>>> „Die wilden Hunde von Pompei“ nämlich. So möchte ich‘s wenigstens hier Ihnen ans Herz legen; wenn Sie es gelesen haben, wird es Sie Ihr Leben lang begleiten.

Erst um zehn vor sechs auf, weil wir uns erst gegen halb zwei Uhr nachts zum Schlafen legten; abends war lange noch mein Junge hier, und wir aßen gemeinsam; danach fragte die Löwin mich nach den großen Leseerlebnissen meiner Jugend. Immer wieder zog ich ein Buch aus den Regalen und las ein paar Seiten vor, auch den Anfang von Dostojewskis „Die Dämonen“, die den Ausschlag dafür gaben, daß ich Schriftsteller werden wollte. Nun würde ich‘s gerne wiederlesen, g a n z. Aber es liegt zu viel andere Lektüre hier, die ich abschließen, bzw. überhaupt erst beginnen müßte, von meiner Arbeit einmal ganz abgesehen. Und schließlich: „Aber jetzt müssen Sie mir auch von sich etwas vorlesen.“
Das hätte sie nicht sagen dürfen.
Wieder einmal, nach langer Zeit, der >>>> Wolpertinger, die Fahrt, Lenore Pomposiewitz, der junge Bundeswehrsoldat, in den der Tod hineinschlüpft, und er kommt in seiner Kaserne an als jemand, der er zuvor nicht gewesen; Oberst Baumwolle und Dr. Lipom ließ ich aus, es wäre zu lange geworden, war mit nahezu zwei Stunden Vorlesezeit schon lange genug. Aber die Löwin ruhte, als sähe sie einen Film. Es war ein solches Glück, als ich spürte, wie meine Erzählung Besitz von ihr nahm. „Die Leute müssen das hören!“ rief sie nachher aus. „Wer liest denn so noch ein Buch? Wir haben ganz andere Lesehaltungen unterdessen, wer hat noch Zeit und Fähigkeit, sich derart hineinfallen zu lassen?“ Aber sie kenne Vergleichbares nicht, „Joyce vielleicht noch“, sagte sie, eine Parallele, die ich nicht sehe. „Oder man liest es in der Gruppe; wenn einer nachläßt, gibt ein nächster neuen Impuls.“ Man werde überhaupt nur von einhundert, erwiderte ich, vielleicht zweihundert Leuten gelesen und wenn man übersetzt sei, dann vielleicht von tausend, egal, wie viele Male ein solches Buch sich verkauft habe. Gut verkaufte, solche, Bücher würden als Fetisch erworben, nicht aber gelesen, jedenfalls nicht von den Vielen; aber die Vielen machen sie möglich, halten sie in der Gegenwart, allein durch Finanzierung. Es sei mir vollkommen klar, am E n d e einer Epoche der Literatur zu stehen, „ich nehme noch einmal alles zusammen, bündle es und stoße ein kleines bißchen weiter vor, wie wenn man eine Haube daraufsetzen würde, die es zugleich abschließt und, denn sie hat ein Loch, bereits in das Kommende schaut“. Ich erzählte ihr von meinem tiefen Glauben in die Zukunft, in neue Künste, die entstünden, von denen wir noch kaum eine Ahnung hätten, „vieles davon wird im Netz sein. Aber die große Literatur ist bereits heute vergangen. Sie stirbt als Kunst, wird sich aber erhalten als Plot: ein vor allem moralisches Entertainment für nebenbei, wenn grad mal ein Screen nicht zu Hand ist, in der UBahn, im Wartezimmer, vielleicht nachmittags noch auf ein Stündchen. Doch darf‘s nicht zu anspruchsvoll und darf nicht zu dicht sein.“ Auch sei so vieles, auf was ich im Wolpertinger angespielt hätte, gar nicht mehr bekannt, „ein Problem, das auch Krausser haben dürfte“ -, nein es sei das gar kein Grund zur Klage, denn Neues, völlig Neues ist gekommen und nimmt allmählich die alten Stellen ein; eine Kunst werde kommen, von der wir, und zwar alle, wirklich noch gar keine Vorstellung hätten; alleine darauf komme es an, ein wenig von diesem Alten ins Neue mit hinüberzuretten – „deshalb hab ich Die Dschungel begonnen, unter anderem“-, wie diese ‚Rettung‘, die eine Bewahrung sei, vielleicht aussehen könne, hätte ich >>>> im Berghain deutlich gespürt und erfüllend gehört, ich meine gar nicht das ‚Event‘, sondern Canisius‘ Dekonstruktionen an Laptop und Mischpult, und seine Konstruktionen dann, daraus. Ich machte daran gerne mit, „aber was ich wirklich kann, dies hier“, ich legte die Hand auf den Wolpertinger, „ist eigentlich überlebt, und das da“, ich zeigte auf den Typoskriptturm von ARGO, „ist nur ein Anfang, der noch sehr ungenügend, weil an ein Buch gebunden, das Alte ins Neue hineinsitiuiert und dabei selbst neu wird, aber eben nur ein bißchen.“ Man brauchte, denke ich jetzt, eine Buchform, die zu sprechen beginnt, und zwar, wenn man sie aufschlägt, mit der eigenen Stimme des Lesers oder wahlweise der eines andren, die aber auch zurückkehren kann in die Schrift, wo man zurückblättern möchte, und die die Musik, wenn sie erwähnt ist, mitklingen läßt, die einem zudem die vom Text vors innere Auge steigenden Bilder wie einen Film konkretisiert. Das kann keine Hardware mehr leisten, es sei denn, sie sei klein wie ein Chip. Wir brauchen aber die Haptik auch. Doch selbst das ist ja „nur“ eine Funktion des Gehirns und also prinzipiell modulierbar. Doch die Zeit der Leseabende, definitiv, ist vorbei. Ich spreche nicht von Einzelnen, sondern von der Menge derer, die der Literatur ein ökonomisches Existenzrecht geben; die Literatur als Kunst hat es verloren. Das ging rasend schnell und setzte damit ein, daß sie ihre kulturelle Leitfunktion verlor. Damit verlor sie ihren Anspruch. Dieser Prozeß ist bereits abgeschlossen. Das pfeifen vom Dach alle Spatzen: ein solches Gezwitscher! Wer‘s nicht hören möchte, schließt die Fenster, die indessen ich, auch im strengsten Winter, offenstehen lasse. „Dann wird‘s aber kalt“, sagte die Löwin.
Es hat schon seinen Grund, daß ich meinen Kachelofen erhielt, indem ich, als dieses Haus saniert worden ist, den Einbau der Heizung verweigert habe, so daß ich alle zwei Tage, winters, in den Keller muß, um nächste Kohlen hochzuholen. Ich lebe in einer großartigen Gleichzeitigkeit, deren Welten sich aber verschieben, und die eine sackt ganz allmählich hinab. Wenn ich nicht loslaß, zieht sie mich mit.

9.55 Uhr:
Jetzt habe ich mal den Anfang des Hörstücks, so, wie er im Typoskript vorgesehen ist, in >>>> Die Dschungel gestellt. Daran kann sich, selbstverständlich, bei der praktischen Montagearbeit noch etwas ändern – ein großer Vorteil, wenn die Produktion solch einer Arbeit in meinen eigenen Händen liegt. UF hat mir vieles an Musiken geschickt, die bei Krausser in „UC“ erwähnt sind; die muß ich alle noch durchhören; was ich jetzt gleich machen werde. Dabei schlage ich, simultan, ein neues Kapitel auf, das erste eines Buches, das mir auf der Buchmesse Frankfurtmain der Wiener >>>> Septime-Verleger in die Hand gedrückt hat: „Wär toll, wenn Sie‘s läsen.“ Nämlich >>>> Tobias Sommers Dritte Haut; und er selbst klopfte bei Facebook an: ob ich dazu gekommen sei. Also zog ich das Buch aus dem Stapel, schlug‘s auf, und schon die ersten Sätze rochen gut:Unbewohnbar. – Als ich dieses Wort zum ersten Mal hörte, der Hotelgast vor der Rezeption stand, den Schlüssel auf den Tresen warf und die Sauberkeit seines Zimmers anschaulich erläuterte, glaubte ich für einen Augenblick, es könnte die Antwort sein, die Erklärung, warum die Psychologen behaupten, ich sei ein komplexer Fall.

16.50 Uhr:
[Placebo, I‘ll be Yours.]
Höre mich gerade durch die mir zugeschickten Pop-Musiken durch; einiges läßt sich sicher verwenden, wenn man kleine Takes aus dem sich sowieso dauernd Wiederholenden rausschneidet und intelligent mit dem Text verbaut. Anderes, zum Beispiel Radiohead, kann man sich auch mal ohne Zweckabsicht anhören; nach einer halben Stunde geht mir aber auch das auf die Eier, will sagen: es wird einem ganz impotent davon. Toll allerdings, ja großartig sind achtzehn Musikdateien, von denen ich aber weder weiß, wer da spielt, noch was das eigentlich für eine Musik ist; UF schickte sie schlicht mit der Aufschrift: „Krausser, Kammermusik“. Sowas führt bei mir zu vorurteilsfreiem Hören, aber wenn‘s einem gefällt, steht man, wie rätselratend vor der Sphinx, mit leeren Händen da. Die Nummer 1 scheint mir die moderne Bearbeitung eines Gregorianik-Stücks zu sein, jedenfalls eines aus der Renaissance; die Bearbeitung ist indessen freitonal, ein reines Brass-Stück, das Choral-Character hat. Danach kommen Vertonungen von Gedichten Kraussers für Klavier und Sopran.
Hab UF deshalb geschrieben: Hüüüülfe!

6 thoughts on “Krausserjournal: Zwischenruhe mit liebevoller Buchempfehlung. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 19. November 2011. Sowie ein Ab- und Angesang.

  1. Ich hatte die CD damals (allerdings schon ein paar Jahre her) bei Helmut Krausser direkt bestellt und garantiert nicht mehr als 20 Euro bezahlt.

    Musikalisch verantwortlich ist neben Krausser im übrigen Moritz Eggert, mit dem Krausser ja häufiger zusammenarbeitet, aber das wissen Sie vermutlich selbst.
    Ich wundere mich, warum Sie die Lieder für Cello und Klavier nicht erwähnt haben oder haben Sie die Aufnahme gar nicht komplett bekommen?

    1. @dobar. Doch, aber noch nicht komplett gehört, weil ich grad zwischen all den Musiken, also auch anderer Komponisten und Gruppen, hin- und herspringe, entsprechend den Textstellen, für die ich suche.
      Bin ganz froh, daß ich mich Kraussers Kompositionen jetzt erst zuwende, weil, auch sie in dem Hörstück unterzubringen, den 55-Minuten-Rahmen völlig gesprengt hätte und ich ja nicht nur eine Portraitsendung, sondern ein eigenständiges Hörstück mit dem Material schreiben wollte. Was ich getan habe. Wie und ob überhaupt ich die Kompositionen jetzt integriere, wird der Produktionsverlauf zeigen.

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