2 thoughts on “Siebzehn.

  1. Aldous Huxleys Kontrapunkt und Heinrich Schirmbecks Zyklotron. Indes sie, die Nacht, in Günter Steffens versinkt.

    Es war der erste wirkliche Gesellschaftsroman, den ich las, stilistisch von höchster Eleganz, raffiniertest in seiner kritischen Gegenwärtigkeit, dabei auf böseste Weise satirisch, ohne auch nur momentlang parabelhaft zu werden, und zugleich wird die Handlung theoretisch contrapositioniert – er legte mir zuerst, Aldous Huxley, ein romantheoretisches Instrumentarium in die Hand und schulte mich im Umgang mit den Waffen. Dabei ging er mit meinen eigenen Einflüssen, den bisherigen, auf Konfrontation:

    Die Musikalisierung der Prosadichtung. Nicht nach Art der Symbolisten durch Unterordnung des Sinns unter den Klang (pleuvent les bleus baisers des astres taciturnes. Bloße Glossalien!), sondern in großem Maßstab, in der Konstruktion. Siehe Beethoven! Die Stimmungswechsel, die jähen Übergänge (Erhabenheit abwechselnd mit einem Spaß, zum Beispiel im ersten Satz des B-Dur-Quartetts, Komödie, die plötzlich auf gewaltige und tragische Feierlichkeiten deutet, – im Scherzo des cis-moll-Quartetts). Noch interessanter sind die Modulationen, nicht nur aus einer Tonart in die andre, sondern aus einer Stimmung in die andre. Ein Thema wird angegeben, dann entwickelt, aus der Form gebracht, unmerklich verändert, bis es, obwohl noch immer erkennbar dasselbe, ganz anders geworden ist. In den Variationenfolgen wird das Verfahren noch einen Schritt weiter getrieben. In diesen unglaublichen Diabelli-Variationen, z.B.! Die ganze Skala von Gedanken und Gefühlen, und doch stehn sie aller in organischer Beziehung zu einer lächerlichen kleinen Walzermelodie. Führe das in einem Roman durch! Wie? Die jähen Übergänge sind leicht genug. Man braucht nur eine genügende Anzahl von Charakteren und parallelen, kontrapunktischen Handlungen.
    Huxley, Kontrapunkt des Lebens, 286.

    Ich kann es fast selbst nicht glauben: Liest sich das nicht wie ein direktes Manual der formalen Verfahren all meiner späteren Romane, beginnend bereits mit Die Verwirrung des Gemüts von 1983? Meine Güte, ich war neunzehn!
    Huxleys Meisterroman, eben dieser Point Counter Point, erreichte mich wohl vor allem, weil Musik eine solch herausragende Rolle darin spielt, und zwar „meine“ Musik, die überdeutlich nicht die meiner Generation war. Dazu beherrscht dieser Schriftsteller die großen Dialoge, wie ich das bisher nur >>> in den Dämonen gefunden hatte, die mich immer noch beschäftigten; er ist im Wortsinn vielstimmig, musikalisch ausgedrückt: polyphon. Gar kein Problem, daß bei ihm acht Leute gleichzeitig sprechen, auf den Stehparties etwa, die er beschreibt. Er ist zudem schlagfertig, was selbstverständlich ein Schein ist insofern, als ein Autor, anders als ein Partylöwe, alle Zeit der Welt hat, um seine Repliken zu ersinnen; im Roman sind sie dann aber unmittelbar: so nimmt der Leser sie wahr, und das soll er eben auch. Dabei bekommt Huxley noch die feinste Sottise aus dem Handgelenk hin:

    „Ich will zwar nicht behaupten, daß ich viel von Musik verstehe, aber ich weiß, was mir gefällt, wenn ich‘s höre.“
    Die Phrase schien ihm Selbstvertrauen zu geben. Er räusperte sich und begann abermals: „Was ich immer sage, das ist…“
    „Und nun“, schloß Lady Edward triumphierend, „möchte ich Ihnen Mr. Babbage vorstellen.“

    Huxley, Kontrapunkt des Lebens, 46.

    Von feinem Geist beobachtet ist auch folgendes, das die ideologische Tendenz manch eines Linken hinter Kimme und Korn nimmt; auch dieses könnte, das Idiom nur einige Jahrzehnte später, von Dostojewski stammen:

    Illidge verübelte den Reichen ihre Tugenden viel mehr als ihre Laster. Völlerei, Trägheit, Sinnlichkeit und alle die weniger lieblichen Sprößlinge der Muße und eines arbeitslosen Einkommens waren verzeihlich, eben weil sie unrühmlich waren. Aber Selbstlosigkeit, Geistigkeit, Unbestechlichkeit, Feingefühl und auserlesener Geschmack – die wurden gemeiniglich für bewundernswerte Eigenschaften gehalten. Und darum waren sie ihm besonders zuwider. Denn diese Tugenden waren, nach Illidges Auffassung, ebenso schicksalhaft die Produkte des Reichtums wie chronisches Völlern und Frühstücken um elf.
    Huxley, Kontrapunkt des Lebens, 61.

    Noch eine Kostprobe? Vielleicht von weiter hinten in dem dicken Buch:

    John Bidlakes Ankunft unterbrach das tägliche Einerlei, und daß er sterben werde, ließ sie irgendwie alle sich wichtiger fühlen. Den häuslichen Verrichtungen in Gattenden verlieh sein herannahender Tod eine neue Bedeutsamkeit. Dieses bevorstehende Ereignis war die Sonne, um welche die Seelen des Haushalts nun bedeutungsvoll und beinahe verstohlen kreisten. Sie mochten murren und mitbilligen, aber sie betreuten ihn sorgfältig. Auf eine unklare Art waren sie ihm dankbar. Sterbend belebte er sie.
    Huxley, Kontrapunkt des Lebens, 316.

    Keines meiner Bücher ist zerlesener als dieses,

    keines hat mehr lose, wie von Heerscharen insektenkleiner Mäuse zerbissene Seiten. Alle meine Bücher zuvor hatten zu meinem Gefühl gesprochen, hatten meine Stimmungen aufgeladen oder auf sie reagiert und diese auf sie, – dieses hier nun schärfte meinen Geist und härtete mich, wie man eine Klinge, die noch glüht, in Eiswasser Wasser traucht. Huxley treibt sogar mit meiner Lebensliebe Spott, mit der Musik: „…die Geiger zogen ihr beharztes Roßhaar über die gespannten Därme von Lämmern…“ Jedem anderen hätte ich sowas nicht nur damals verübelt, ich erlaube es sonst nur noch Pynchon, der aber viel zu spät kam, als daß er mich noch prägen hätte können: „Alles, was man fühlt, wenn man einen Beethoven ans Ohr kriegt, ist losmarschieren und Polen erobern“ (Die Enden der Parabel, 688).
    Ich war Huxley aber sowieso gewogen, schon von daher, >>>> nie vergessen, wohin die Schöne Neue Welt selbstverständlich auch gehört; ich hab sie dort nicht erwähnt, weil‘s sonst zu lang geworden wäre. Dieser Point Counter Point war allerdings eine völlig andere Kategorie und wies, in der Chronologie meiner Lektüregeschichte, auf Der Mann ohne Eigenschaften voraus und ist doch sehr viel virtuoser noch; das liegt vielleicht an den musikalischen Bezugswerten, die seine Ästhetik grundieren. Unfaßbar, daß dieser Roman heute so vergessen ist. Mit der Übersetzung hat sich Herberth E. Herlitschka ein Denkmal gesetzt, vor dem ich Lichter anzünden möchte. Dieser Text hier sei das erste.
    Ich las jetzt plötzlich anders, es ging nicht mehr darum, schon mit zwanzig nicht mehr, mich zu unterhalten, sondern ich begann, wie ein Lehrling zu lesen, vielleicht auch schon wie ein Geselle. Ich las technisch. Bis heute ist das so geblieben. Und geradezu unmittelbar, in meinen eigenen Texten, wandte ich an – oder versuchte es -, was ich da lernte. Das brauchte nie Inkubationszeit. Inkubationszeit bedeutete vielmehr, das Gelernte wieder loszuwerden, wenn es allzu mächtig mein Eigenes überwuchs, oder es angemessen auszutarieren. Das schaffte ich, ungefähr, erst ab dreißig, vielleicht auch erst noch später. Jedenfalls schuf ich ein Werkstück nach dem anderen; Arbeitspausen machte ich, ganz bis heute, nie. Während meiner Lehrzeit schon gar nicht, aber auch nicht, als ich das Abendgymnasium anfing, bis mittags aber jobbte, um es finanzieren zu können. Damals gewöhnte ich mir an, nie wieder lange zu schlafen. Im Schnitt, bis heute, genügen mir vier Stunden und eine Stunde des Mittags, wenn es sich einrichten läßt; bei nur drei bis dreieinhalb Stunden Nachtschlaf wird sie obligat.
    Ich wollte ja auch noch leben, also in Konzerte, ins Kino, später in die Oper, und da waren auch noch immer Frauen, bald waren sie, würden sie sein. Das wußte ich aber noch nicht. War aber zuversichtlich. Dann besuchte ich meinen Vater, seine schöne Geliebte war da… sanft laß ich hier den Vorhang herunter. Sie wollen lieber gar nicht wissen, glauben Sie mir, was dahinter geschieht.

    Als er sich lüpft, habe ich das nächste Buch in Händen. Ich hatte nach deutscher Science Fiction geschaut, die mich immer noch reizte, vor allem, weil ich die Entwicklung in der Physik sah und daß sie viel entscheidender für die Geschichte wurde als jemals eine Sozialbewegung. Ich spielte sogar wieder mit dem Gedanken an ein naturwissenschaftliches Studium, wenn ich denn mein Abi hätte. Da kam dann Adorno dazwischen, dem aber ein späterer Prägungseintrag gewidmet werden muß. Ein eigener.
    Ich hatte Erzählungen eines schon damals Verfemten vor den Augen, der die präraffaelen Feinheiten symbolistischer Ästhetiken mit naturwissenschaftlicher Schärfe verband, sprachlich aber neusachlich war, doch dem entgegen ein so gläubiger Mann wie >>>> Manfred Hausmann und Alfred Döblin. Als ich ihn Jahre später besuchte, ich wollte ein Hörstück über ihn schreiben, lebte er verlassen auf der Rosenhöhe Darmstadts, unleidlich, bitter, aber eitel, daß es nur so von den Spiegeln seimte. Keiner wollte mit ihm zu schaffen haben, er war mehr als nur schwierig. Mein Hörstück gab ich auf, weil er sich dauernd hocherregt beschwerte; schon daß ich einen kleinen Text, der ihn ins Bewußtsein zurückbringen sollte, „vergessen auf der Rosenhöhe“ genannt hatte, brachte ihn in mehrere Harnischs: „Ich bin nicht vergessen!“ brüllte er, der alte Mann, ins Telefon. Und knallte den Hörer auf die Gabel.
    Seine Novellen gehören zum besten, was es in der deutschsprachigen Literatur seit Ende des Zweiten Weltkriegs überhaupt zu lesen gibt. Eine jede ist, schon mit dem ersten Strich, von klassischer Vollendung – nach-neoklassizistisch, müßte man sagen, also vielleicht schon – in der strengen Variante – postmodern. Wenn nicht sein Thema wär, das Heinrich Schirmbeck mythisch besetzt. Er ist üppiger als Huxley, vollschlank in seiner Neusachlichkeit: unter seinen Händen wird sie sinnlich, die Mathematik. Trotz ihres klassizistisch Glashaften, ihrer – Gläserness.
    Ich schreibe aus meiner Erinnerung, die und wie sie wirkt. Vergessen Sie das bitte nicht. Das Wirkende hat selten etwas mit dem zu tun, was bewirkte; es hat sich verwandelt, in uns, mit seiner Zeit, so, wie auch jene, die wir in Leidenschaft lieben, selten die sind, die sie physisch sind oder selbst in ihrem Selbstgefühl. Wir lieben Projektionen, weil das Bedingte, notwendig so Gewordene keine eigene Freiheit hat.

    Übrigens hatte ihre Schönheit unter der Operation nicht allzusehr gelitten. Kennerische Salonlöwen meinten sogar, der durchsichtige Glanz der Genesung, eine gewisse perlmutterne Blässe und die raffinierte Müdigkeit (!) eines Anfluges koketter Schwäche machten diese Frau anziehender, als sie vorher in der vitalen Blüte ihrer Gesundheit gewesen sei.
    Sie flog von Redoute zu Redoute, von Maskenball zu Maskenball, während der arme Baron wie ein Mailwurf in den Gewölben des Staatsarchivs der Geschichte des Halsbandes nachschürfte.
    Eines Abends, sie prangte im Kostüm der Kleopatra, und trug dazu ein grünes Halsband, von dem sarkastische Zungen behaupteten, sie habe es, um etwas ganz Apartes zu tragen, aus den dreißig Gallensteinen anfertigen lassen

    Schirmbeck, Hieroglyphe und Halsband.

    von denen man sie operativ befreit hatte. So etwas gefiel dem Prärafficionado, der ich gleichzeitig blieb, trotz Huxley mit ihm. Diese Spaltung hat sich nie geschlossen, aber ich habe Brücken von drüben nach hier und von hierwärts nach drüben gebaut. Heinrich Schirmbeck ist davon eine: Physik und Mythos, in seinen Erzählungen, sind nicht vereinbar, sondern eines. Wir stehen vor einem >>>> Zyklotron:

    Alles scheint auf die Existenz wirklicher, mit Substanz begabter Teilchen hinzudeuten; und dennoch: was man Ihnen da vorführt, ist eine großartige Traumarchitektur. Die Physik hat den Substanzbegriff fallengelassen. Was als wirkende Ursache hinter der Phänomenalität des Wirklichen liegt, ist ein Geheimnis. Es scheinen Strukturen zu sein, Wesenheiten, die zu Phänomenen gerinnen. Auch das Elektron ist nur eine Struktur. Sie offenbar sich in zwei Zahlen: Ladung und Masse; mehr wissen wir nicht.
    Schirmbeck, Die Pirouette des Elektrons.

    Diese große Erzählung geht, mit einer Autofahrt, furchtbar aus. Sie werden es schon ahnen.

    Und dann fegte ein anderer alles hinweg, einer, der vielleicht nur ein einziges Buch, das ein Roman genannt zu werden, aber dafür mit sämtlichen Qualitäten verdient, die große Literatur zu haben hat: Günter Steffens‘ Die Annäherung an das Glück. Es traf mich wie ein Stromschlag. Ich verbrannte mich daran, und die Narbe ist niemals verschwunden. Wahrscheinlich war dies der erste große und wirkliche, und wahrhaftige, Liebesroman, mit dem ich es je zu tun bekam. Er ist an Intensität nicht zu überbieten, man kann ihr nur gleichkommen. Wer ein Buch über die Liebe schreibt, das nur dieser Liebe gilt, hat die Verpflichtung, es zu tun.

    Oft – wir sagten „oftermals“ – habe ich mir gewünscht, daß sie nicht nur so in mir beschlossen wäre, wie die Lyrik es meint, sondern so leibhaftig wie eine kleine russische Puppe in der größeren.
    Steffens, Die Annäherung an das Glück, 9.

    So beginnt der Roman, und er endet:

    Sicher ist nur, daß dann, an seinem unermeßlichen Ende, das Licht ausgelöscht wird, und alles ist wie nie gewesen, ist nie gewesen. Und wenn man Glück hat, wird es so schnell ausgelöscht, wie man die Tischlampe ausknipst, wenn das Nachtpensum geschafft ist und man einen leichten Kuß im Nacken fühlt oder gern fühlen würde, so sanft wie die Berührung eines kleinen Vogels
    Steffens, Die Annäherung an das Glück, 446.

    Auch dieses Buch wieder, ganz wie der Huxley, ganz wie der Schirmbeck, ist auf das engste vollgedruckt. Schon nach der zweiten Seite kommt man nicht wieder los. Ich zitiere von dort die Stelle, die Sie jetzt schon aus dem Ende kennen:

    Ihr – alte Bekannte, die ich verachte wie Ihr mich verachten möchtet (und könnt doch, ähnlich wie andere Eurer Art in einem Gedicht, das Ihr nicht kennt, erst leuchten, seit ich dunkel bin) – Ihr wißt ja alle, daß sie vor drei Jahren gestorben ist. Aber das weiß auch von Euch fast keiner, daß die Stelle, von der aus der Tod in sie eindrang, eben derjenige war, auf die ich sie zum ersten Mal küßte; ganz so, als hätte ich ihr gleich zu Anfang und mit meinen eigenen Lippen ein langsam wirkendes tödliches Gift eingeflößt. Einige von Euch waren dabei, doch weiß ich nicht, ob jemand gesehen hat, wie ich, hinter ihr hockend, ein paar weite schwarze Flügel ausspannte und mich langsam aufrichtete, hoch auf mit langem Hals und kleinem Kopf, und wie meine schrägsitzenden kalten Augen lange zielten, bevor mein Hals sich im Bogen zu ihr neigte und der nadelspitze Mund in der Mitte meines Kopfes auf das kleine Mal auf ihrer linken Schulter niederstieß.
    Sie sagte noch lange nachher manchmal, ich hätte es so sanft berührt „wie ein Vogel“, und von diesem Moment an sei sie jederzeit bereit gewesen, ohne zu Zögern mit mir auf und davon zu fliegen; wohin auch immer, „so scheint die Liebe Liebenden ein Halt“.

    Steffens, Die Annäherung an das Glück, 10.

    Steffens selbst, der Dichter, kam nie darüber hinweg, daß ihm die Wirklichkeit und der Verlust die Dichtung eingegeben, daß er sie mit denen hatte bitter bezahlen müssen, vorbezahlen. Er ging elend zugrunde nach diesem Roman, verließ die Wohnung nicht mehr, aß nicht mehr, vermüllte. Eingekeilt in Abfalltüten schrieb er einen nächsten Roman, der „Der Rest“ heißt, und erlosch. Vergeblich hat Dieter Wellershoff, sein Lektor, ihn von Zeit zu Zeit versorgt. Man hat ihn, Steffens, dem „Realismus“ zuschreiben wollen. Das lag schon in der Zeit. Durch die von mir gewählten Auszüge glänzt indes eine andere Ästhetik: alleine die der Dichtung nämlich.

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