Das Irseer Arbeitsjournal (7). Freitag, der 9. August 2012, worin vom Stress erzählt wird, der offenbar immer, in jedem Kurs, mindestens eine/n ergreift, so daß die „Lehrer“ zu Unholden werden. Zudem noch einmal zum Tanz.




5.21 Uhr:
[Kloster Irsee, 125.]

Neben meinem Zimmereingang sitzt jeden Morgen ab etwa sechs Uhr eine Zeichnerin und arbeitet. Ich mag das sehr. Man ist so, auch wenn die Tür einen trennt, nicht allein, steht nicht für sich in dem Kunstfluß. Da hab ich es mir angewöhnt, ihr, wenn ich meinen Kaffee von unten heraufhol, ihr immer einen mitzubringen: Tasse und Untertasse und die Milch, so stell ich ihr dieses auf ihren Tisch.
Heute morgen aber ist sie nicht da. Vielleicht geht‘s ihr wie gestern mir: Denn das haben Sie gemerkt, daß ich gestern früh nicht recht schreiben konnte; zuviel ward getrunken die Nacht zuvor (und wir zogen durch die Ateliers, noch nach 23 Uhr; da saßen immer noch die Maler, standen vor den Staffeleien in ihren Sälen, saßen, in ihren Räumen, vor den Computers, Bilder betrachtend, Serien von Bildern, lachend, sprechend); jedenfalls war ich nicht zeitig hochgekommen.
Dann „knallte“ es gestern nachmittag: eine der Autorinnen, während ihr Text besprochen wurde, fühlte sich gekränkt, nein, war es und warf mir vor, ich möge sie nicht. Bei so etwas hilft kein Gegenbeteuern; die Sache ist auch noch nicht vom Tisch. Ich wollte drüber sprechen, doch „nein, darüber rede ich nicht“. Zu wenig beachtet von mir, zu wenig von mir Reaktionen. Dabei bleibe ich in meinem Kurs strikt am Text orientiert, nicht an Personen; Sympathie & Begehren werf ich nach draußen, niemals nach innen, wenn ich „lehre“ – ein Begriff, übrigens, dessen Fülle mir eben erst, heute früh, unter der Haut ist; ich hab mich vorher nie so verstanden. Aber, in solchen Kursen ist man‘s. Früher hätt ich es von mir gewiesen. Es ist vielleicht die Haltung der Maler, die hier Kurse leiten und alle an Kunsthochschulen Professoren sind, was mich geneigt macht, es anzunehmen. Objektiv ist auch was dran.
Jedenfalls bin ich noch jetzt ein bißchen verstört von dem Ausbruch, auch wenn niemand andres in der Gruppe die Meinung dieser einen teilt; dennoch, verstört und, was mir dann schnell Hand in Hand geht, auch verärgert, nicht aber meinerseits verletzt, sondern „bloß“ hilflos, auch weil wir alle unter Druck stehen, der öffentliche Auftritt, am Sonnabend abend des Kunstsommerfestes bis hinein in die Nacht, bevorsteht, da müssen die Texte fertig sind und präsentierbar. Es kommt mir sehr darauf an, daß jedes Stück, das vorgetragen wird, wirklich für sich stehen kann, ohne in irgend einem Hörer auch nur den Vorschein, also das Gefühl eines noch zu Privaten zu erzeugen; vielmehr sollen Sprache und Form so etwas restlos inhaliert und es zu einem Kunst-Stück umgebaut haben.

Wiederum noch immer benommen, benommen entzückt (wie entzündet), bin ich nach wie vor von der Truppe des Balletts, einer Kunstform, die mir eigentlich recht fremd, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die mich, als ich noch jung war, begeistert haben: „Gänge“ etwa, von Forsyth, vor dreißig Jahren in Frankfurtmain, einige Arbeiten Kresniks sowie Reinhild Hoffmanns – aber das war alles nie genug, um mich auf Dauer fesseln zu können; die Kunstform selbst blieb – anders als für den Mainstream, vielleicht eben drum – außerhalb meines Focus‘. Hier in Irsee trifft mich aber die, wie ich gesterrn nacht formulierte, „geballte Schönheit“ der Körper, wie sie Schulter an Schulter mit der Disziplin und einem Ausdruckswillen, der zugleich wie leichtfüßig, tatsächlich aber kämpferisch ist, sich in die Bewegungen schmiegt; es ist das Körperliche, das mit dem Kalkül tanzt, was mich berührt, nicht zuletzt auch, wie Jochen Heckmann, der Choreograf, es zu vermitteln versteht, auch dem Publikum zu vermitteln, der sich dabei durchaus scharf, wenn auch dabei lächelnd und hochgradig konziliant, vom „klassischen“ Ballett distanziert: „Neunzig Prozent“, bei diesem, „ist nicht Tanz, sondern Pantomime“. Plötzlich verstand ich, weshalb ich meist auf Distanz ging. Da saß ich, gestern abend, am Boden, sah zu, hörte zu.

Irgend jemand, nun schon zum zweiten Mal, legte mir eine Blume draußen an den Platz, wo ich immer die Pfeife lasse, wenn ich geraucht habe und wieder hinauf zu meinen Leuten gehe. Das erste Mal mochte das ein Zufall gewesen sein, das zweite Mal, gestern, nicht mehr. So daß ich lächeln mußte und die Blume mit hochnahm. Aber ich will gar nicht wissen. Wohl auch, weil mich der Ausdruck dieser einen Tänzerin so… ja, getroffen hat, so sehr, daß ich ihr gestern >>>> dieses Gedicht schreiben mußte; Ausdruck meint mehr als „nur“ den Tanz; meint insgesamt die Haltung, den Ausdruck des Gesichts, Feinheit ohne konturlos zu sein, sondern voll von Gegenwart und Wille, indessen doch reserviert und immer ein wenig – Projektionen, das ist mir durchaus bewußt – fremd, wenigstens fern, alles schimmerte etwas ganz anderes noch mit durch die Haut; all das aber zugleich in die Haltung des gesamten Körpers genommen, von ihm ständig ausgedruckt, gleichsam stets unter Spannung, was etwas um so mehr Forderndes hat, je weniger es eigentlich will oder zu wollen scheint – eine ideale, als Erscheinung, „Figur“, um Geschichten in sie hineinzuschreiben, ideales Urbild einer mir nahen Phantastik, als würde einem tatsächlich Ligeia begegnen oder ein Kind Lan-an-Sìdhes, jedenfalls jemand, die aus einem mythischen Roman herausgetreten ist, der einen seit Jahren beschäftigt, so daß man seit Jahren damit beschäftigt ist, ihn fortzuschreiben. Die Person selbst weiß davon nichts und sollte es vielleicht auch nicht wissen, damit der Zauber nicht Risse bekommt: Risse der Realisierung, Risse der Profanität, des Alltags, der pragmatischen, d.h. notwendigen Umstände. Deshalb hält auch er selbst es, der Autor, auf Distanz und will nicht „überprüfen“, sondern nur, sozusagen, abschreiben, die Form als Erscheinung abschreiben, in der sie ihm so gegenübertritt, und sie mit Fantasien füllen – eben nicht den Fehler machen, „haben“ zu wollen oder wollen vielleicht doch, aber keinen Schritt tun, auch zu „kriegen“. Orte der Sehnsucht sollte, rein aus Klugheit, niemand betreten, dem an der Sehnsucht gelegen ist als einer poetischen Kraft und Quelle für Inspirationen.
Seltsames Verfahren! Eine Person betrachten wie >>>> eine von Künstlerhand gehauene Plastik, die aber, als dächte man in ihr, durch dich spricht – nämlich als A l l e g o r i e.

Gut. Es zielt auf den Endspurt. Nora Gomringer und ich, also Lyrik- und Prosakurs, werden am Sonnabend abend einen Raum gemeinsam gestalten; es ist sehr schön, wie das Hand in Hand und Seele geht. Ich habe noch zwei Texte durchzuarbeiten, je Zweiergespräch mit den Autorinnen, klare, gut definierte Lektoratsarbeit. Dann wird die Performance geplant. Sowie stellen wir aus Textauszügen, dazu aus Fotografien und fotografierten Bildern der Kunstsparten Bilder für eine Slideausschau her, die im Innenhof des Klosters auf eine der Wände riesig projeziert werden sollen. Die Leute, die in dem Hof essen und trinken, können dann schauen und lesen, derweil die tatsächlichen Lesungen simultan laufen sollen, sowie alle anderen Vorführungen, die des Chores, des Balletts, von Chor und Ballett gemeinsam, und die Begehungen der Künstlersäle. Das will alles genau geplant sein, so daß die eigentliche Textarbeit, die ich hier zu verrichten habe, bis zum Mittag geschafft sein muß. Die bisherigen Ergebnisse, die „meine“ Leute erarbeitet haben, haben mich hochzufrieden gemacht – von dem Vorfall gestern abgesehen, der mir aber nicht der eigentlichen literarischen Arbeit zugehörig, sondern eine Folge gruppendynamischer Prozesse zu sein scheint, die ich nicht im Blick hatte und darin auch gar nicht haben will. Das Eigenartige daran ist nur, daß ich die betreffende Person sogar sehr gerne mag, ihre Vornehmheit mag und einen leisen Schmerz mag, der immer in ihrem sensiblen Gesicht liegt, dem einer bereits älteren Frau, die sich sehr bewußt um die Bewahrung von Schönheit sorgt, also niemals aufgegeben hat, sich als Erscheinung zu inszenieren. Das ist mir überaus nah, meiner eigenen Haltung nah. Und ausgerechnet sie fühlt sich zu wenig beachtet. So gesehen, ist das nicht ohne eine Komik, die hier „das Leben selbst“ auf seine Bühnenbretter schrieb.

Jetzt aber will ich mich vorbereiten: die heutige der täglichen >>>> Morgenandachten gestalte nunmehr ich. Noch bin ich nicht nervös, doch es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich in einer Kirche sprechen werde. Nicht lange, nur eine Viertelstunde. Ich werde die erste der >>>> Bamberger Elegien nehmen, leicht gekürzt, damit ich nicht hasten muß. Das Ganze ist, ich schrieb es schon, ein Experiment, das auch ziemlich danebengehen kann, weil der Ton dieser Gedichte ohnedies ein hoher ist; die Gefahr ist da eine Zusatzerhöhung, über die einer sowieso schon drohenden Verdoppelung hinaus. Dennoch will ich den Klang einmal hören, den Fehdehandschuh nehmen, der mir da vor die Füße nicht geworfen, sondern gelegt. Mir ist ja bewußt, wie religiös, wenn auch nichtkonfessionell, die Konnotationen der Elegien sind, ebenso mein Flirt mit dem Katholizismus in den letzten Jahren, flankiert mit dem mit dem Islam; witzigerweise fragte mich eine Tänzerin gestern morgen beim Frühstück, ob ich Buddhist sei – was ich mit der Bemerkung quittierte, ich sei dafür zu weltlich. Daß ich das Weltliche, freilich, den Körper, die Vereinigungen, den Austausch & Atem wie eine Religion aufzufassen geneigt bin, als einen Ritus dieses „zu leben“, das freilich sagte ich ihr nicht. Insofern hatte sie recht und auch recht zu entgegnen: „Es würde aber zu dir passen.“ Mit dem Lachen einer leisen Abwehr war ich aufgestanden und gegangen. Und wende mich jetzt dieser Aussage zu. Danach, um acht, werde ich die Löwin wecken, die ich gestern nacht nicht mehr erreichte in ihrem Wien. Unruhig darob war ich eingeschlafen, dennoch, schließlich. Sie nimmt mir, dachte ich, die Tänzerin übel. Liest sie jetzt dies, dann wird sie, hoff ich, lachen – wenn auch grollend, wie Katzen nur können.
Guten Morgen, Leser:innen.

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