Zu Peter H. Gogolin einmal mehr. Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 30.8.2012. Was ein Romancier ist.


4.43 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Zurücklehnen, denken: ich habe das Bedürfnis nach Musik. Aber sich nicht entscheiden können. Denken: Ich kann das jetzt nicht entscheiden, ich muß mein Arbeitsjournal schreiben, in der Zeit schreiben, nicht schieben. Also die Musik erst einmal wieder verworfen. Ich bin spät genug hochgekommen, um jetzt Zeit vertändeln zu können. Zehn nach halb fünf, zehn Minuten zu spät, so daß es die Mühe eines kleinen Tricks macht, den Beitrag als noch vor fünf Uhr eingestellt ausgewiesen zu bekommen; so ein täglicher Beitrag, wenn er, auch wenn er nur ein Einstieg ist, etwas erzählen soll, braucht mindestens eine Stunde, bis er fertig ist, nicht selten länger, vor allem wenn ich Themen habe und nicht nur plaudern will, mein Selbstgespräch weiterführen, diese unabgebrochene Meditation mit sich selbst. Um mir, nicht etwa Ihnen, zu erzählen, was ich bin und vorhabe, vorzuhaben h a b e. Heute morgen ist das viel, besonders viel, weil ich an der Pavoni dachte: du mußt sofort an den >>>> Gogolin-Artikel; jetzt hast du >>>> gestern so viel erfahren und notiert, das darfst du nicht wieder liegenlassen, auch nicht für Argo, sondern mußt den Text in einem Zug jetzt runterschreiben; ihn überarbeiten kannst du immer noch. Das Ding aber selbst braucht jetzt sein Recht. Sonst, wenn du es abermals schiebst, wird es schließlich liegenbleiben.
Das ist die Crux mit langen Romanen, wenn man ein Mensch ist, der will, auch s i c h will und anderes mehr: leben; sie lassen das eigentlich nicht zu, wollen ganz und nur sein. Sonst kosten sie halt sechzehn Jahre. Aber, widerspreche ich, es sind ja nur noch Korrekturen zu übertragen, die bereits notiert sind, an den Rand der Typoskriptseiten, in den Durchschuß gedrängt, in den ich in solchen Phasen, spottete ich mal, den Roman immer gleich noch einmal schreibe, ganz. Und ist aber auch eine Frage der ökonomischen Existenz; man muß sein Geld verdienen. Auch das will, eigentlich, lange Romane nicht, läßt sie, eigentlich, nicht zu, vor allem, wenn man Kinder hat und hat Frauen, für die man ebenfalls da ist, und überdies noch andre Interessen, Bedürfnisse, zum Beispiel die Musik. Vielleicht wär‘s noch anders, wenn man weite Zustimmung hätte, ein großes Publikum, das einen anfeuert und wünscht, auf das nächste Buch schon lauernd. Man schreibt‘s auch ohne es, das ist faszinierend; Koffer voller Typoskripte, erzählte Gogolin, stünden in seinem Keller. Sehen Sie, schon bin ich in dem Artikel drin. Die Geschichte einer Verkettung widriger Umstände, Notstände muß man sie nennen, die schließlich zu einer Ignoranz geführt haben, einer gegen ein großes literarisches Werk, für das die Leser dankbar wären, kennten sie es denn oder nähmen es nur mal zur Hand. Ich spreche von Gogolins, nicht von meinem. Daß meine Arbeit, in der Form meiner Bücher, keine große Leserschaft findet, hat mit meinem Charakter zu tun, meinem Temperament, meiner sogenannten Unmoral, meiner mangelnden Zurückhaltung bei Krisenthemen, meiner Abneigung gegen Gruppen und den Mainstream, meinen cholerischen Ausbrüchen. Und, zudem, mit der Herkunft, die ich in meinem Namen trage. Bei Gogolin ist das anders. Er hatte wichtige Parteigänger einst, im Betrieb, war nach Kräften gefördert, trug die Glauben der Zeit mit. Nicht ihn, aber sein Werk, hat sie aus der Bahn der öffentlichen Wahrnehmung geworfen. Jetzt ist er zu alt, hat man ihm gesagt, „ach, Sie wollen in den Markt zurück? – Schwierig, schwierig.“ Und dann noch dies: „Das ist ein wirklich guter Roman. Aber können Sie den Krieg nicht rausstreichen? Erzählen Sie doch nur diese Familiengeschichte.“ „Sie schreiben über Krieg, Gogolin! Sind Sie wahnsinnig? Damit können Sie nicht einen Blumentopf gewinnen.“ Nicht als deutscher Romancier, sollte das heißen. Und soll es immer noch. Was hier im Hintergrund sich abspielt, ist skandalös. Wer aber da den Finger drauflegt, der wird ausgeschlossen. Nur wenige, dann, können sich halten, gegen den Betrieb – >>>> Helmut Kausser etwa, den Gogolin wie ich („ein Sondergenie“ nennt er ihn, „mit seinen Büchern, dem Schachspiel, den Kompositionen“) für einen der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart halten. Den Büchnerpreis kriegt aber Hoppe: für ihr harmloses Werk. Harmlos, weil es sich an die gewünschten Direktiven hält und sie erfüllt. Auf seine Weise tut auch Rainald Goetz das: im Kasten bleiben, den man ihm als Notaten-Rapper und Raver der einmal jungen – :so sogenannten – Literatur zugewiesen hat, damit sich mal jemand austoben könne; Narr, der vor den Triumphzug gestellt ist, um rückwärtsgehend den Imperator zu beschimpfen, dem er doch dient und von dem er bezahlt wird.

Es war schwer, heute früh hochzukommen. Zehn nach halb Fünf war‘s, statt halb fünf. Zehn Minuten machen viel aus, man darf das nicht unterschätzen. Aber mein Kopf war noch so dick. Ich habe ja nicht aufgehört, gestern nacht, mit dem Trinken. Auf all den gemeinsamen Whisky kam noch für mich alleine der Wein. Dann träumte mir von Jugendlichen, die angeseilt die Mauer der Russischen Botschaft erkletterten, zu der ich das sowjetische Ehrenmal werden ließ. Was ihnen denn einfalle, ruft ein Soldat und will dazwischengehen, die MP im Anschlag. Sie lachen ihn aus. Das werde er, wieder er, nicht ungestraft durchgehen lassen. Er trage die Uniform einer Supermacht. „Super Mario!“ höhnen die Jungs und lachen. Davon wache ich auf. Oh je, mein Kopf. Dann schon der Gogolin darin.
Während ich dies schreibe, spüre ich geradezu, wie ihn, den Alkohol, mein Körper abbaut. Mein Kopf baut ihn ab. Also gut, um im Fluß zu bleiben: eine Seite Argo. Dann Gogolin. Dazwischen der elfte >>>> Giacomo Joyce. An sich wollte ich heute zusammen mit >>>> Parallalie ein erstes „Zwischenergebnis“ unserer ersten zehn Übersetzungen präsentieren, links Schulze, rechts ANH, der Ergebnisse, zu denen uns unsere beiden Versionen und die Diskussionen darum jeweils geführt haben. Bis jetzt geführt haben.
Aber das werde ich nicht schaffen. Ich muß es auf nächste Woche verschieben. Morgen geht es auf ein Wochenendseminar nach Kiel, das auch noch ein wenig vorbereitet werden sollte.

Sag ich doch – eine Stunde: 5.50 Uhr.
Jetzt darf ich mir auch um die Musik ein kleines bißchen Gedanken machen. Und mir den zweiten Latte macchiato bereiten. Ab acht Uhr werden heute die Kohlen geliefert. Weil bald schon wieder Winter ist.

6.45 Uhr:
Wolfgang Rihm, Zwölftes Streichquartett.

9.55 Uhr:
[Heinz Reber, MA – Two Songs.]
Mit zwei Seiten, immerhin, Argo durch. Dann den nächsten Joyce vorbereitet und auch schon übersetzt; jetzt warte ich auf >>>> Parallalies Nachricht, daß auch er fertig ist. Zwischendurch wurden die Kohlen geliefert, 360 Euro für wenigstens sieben Berliner Kaltmonate, 10 Euro gab ich Trinkgeld. Kohlenschlepper zu sein ist bestimmt kein besonders einträglicher Beruf.
Ich fang jetzt mit dem Gogolintext an, mein Cello werd ich wohl ausfallen lassen müssen, wenn ich bis heute abend fertigwerden will. Zwischendurch muß ich vor allem auch noch die Bahnticketts besorgen. Beschlossen, heute nicht zu duschen. Sò.

19.20 Uhr:
Ah! Fertig geworden mit dem Gogolin-Text, seit morgens saß ich dran, quasi in zwei Rutschs (oder Rutschen? Äh? Rütschen… weiß nich‘), allein den Mittagsschlaf dazwischengeschoben. Tatsächlich nicht am Cello gewesen. Aber zufrieden. Der Löwin am Telefon vorgelesen, weil sie die Fingernägel in der Höhe halten mußte: mit eben lackierten Nägeln tippt man nicht am Computer. „Wunderschön“, sagt sie.

Jetzt brauche ich etwas Distanz. Dann geh ich nochmal drüber, am Montag vielleicht, wenn auch von Volltext klar ist, wie viele Zeichen mein Portrait nun haben darf.

Malt. Was essen. Später M., der Freund, auf ein Bier. Kann sein, daß Broßmann dazukommt.
Und für morgen… nein, ich muß da gar nichts packen. Sind ja nur zweieinhalb Tage. Was ich habe, Sokrates, das habe ich bei mir.

3 thoughts on “Zu Peter H. Gogolin einmal mehr. Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 30.8.2012. Was ein Romancier ist.

  1. Literaturmarkt/Feuilleton Lieber ANH,

    bei diesem Artikel musste ich gleich an diesen Ihren Journaleintrag denken. Beachtet wird fast nur noch, was artig in der Schublade bleibt.

    Mit den besten Grüßen,
    moritz gause

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