Solche Harmonien, die uns betten. Das Arbeits- und erste Neusser Seminarsjournal, nämlich des Freitags, dem 14. September 2012.

5.56 Uhr:
[Arbeitswohnung. Bach, Kantaten mit Magdalena Kožená, William Towers,
Marc Padmore. Stephan Loges. Unter Gardiner.]

Nicht Trost, nein, aber Beruhigung aus der Musik. „Jesus nimmt die Sünder an“, Kantate BWV 199. Wir wissen, welche Illusion das ist, so, daß die andere Illusion als Pflaster auf der wiedergöffneten Wunde der einen liegt. „Das ist doch alles Projektion!“ Ja. Offensichtlich. Was aber tun, wenn diese Projektion immer noch in einem ist, nach Jahr um Jahren, und sich vielleicht noch immer vergrößert hat? wenn auch nahezu fünf Jahre der Psychoanalyse gar nichts da ausgerichtet haben? Wir müssen sie aus uns herausreißen, herausschneiden, an der aber auch andere noch hängen, die einen, denn das ist keine Projektion, wirklich lieben und an dem ganzen Verhängnis unschuldig sind? „Ich bin wie ein Süchtiger, der auf Entzug muß.“ So sagte ich‘s der Löwin, ausgerechnet ihr, die vom Schmerz nun abbekommt. „Und Entzug geht nicht, wenn man sich zwischendurch immer wieder eine Spritze von dem Heroin setzt – setzen muß, weil die Verhältnisse so sind. Es geht nur völlige Abstinenz von dem Stoff.“ Was Distanz bedeutet, völlig Distanz. Und die ist nicht herstellbar, will man nicht Unschuldige verletzen, die von einem abhängen.
So weiß ich nicht, wie mich verhalten, weiß auch nicht, ob, ja fürchte mich, daß Auskühlung auch eine andere Auskühlung zur Folge hat
Nein, ich war nicht fähig >>>> gestern, ein Arbeitsjournal zu schreiben; immerhin, es reichte >>>> zu einem Gedicht, von dem ich freilich nicht überzeugt bin. Aber es ist Spur.
Latte maachiato, erste Morgenpfeife.
Bin erst um halb sechs auf, nachdem ich gestern, ebenfalls gegen sechs Uhr aufgestanden, so wenig Haltung mehr hatte, daß ich mich wieder ins Bett legte und bis elf Uhr schlief. Wodurch, was dringend anstand und -steht, völlig in Rückstand geriet: nämlich die Fahnen des >>>> Essaybandes zu korrigieren. Von den knapp 290 Seiten habe ich über den Tag immerhin 150 geschafft. Spätestens heute abend muß ich fertig sein, werde die pdf dann von Neuss aus an den Verlag schicken; schließlich sind fünf Stunden Bahnfahrt zu füllen. Ich arbeitete extrem verlangsamt, obwohl ich die Lexotanil, die hier noch von damals im Kästchen liegt, vielleicht sind‘s auch zwei, nicht eingenommen habe. Auf keinen Fall kapitulieren, dachte ich. Es selbst schaffen, aus ganz eigener Kraft und eigenem Willen. Nachmittags kam mein Junge zum Celloüben. Ich sagte ihm nichts, sagte nur, es gehe mir nicht so gut, weil ich einen, sagte ich, Krach… – Er hat an den Verhältnissen schon genug zu tragen. Seit er ganz klein war. Immer wieder. Und immer wieder heftig. Wir haben die Pflicht, unsere Kinder zu schützen. Aber sag mal einem was von Pflicht, der an der Nadel hängt. Und sowieso, >>>> diese Angst.
Es ist eine Krankheit. Gestern fiel mir nur noch der Krebs als Vergleich ein. Und dann kommen die Klugen und denken sich: Hab dich doch nicht so, reiß dich doch mal zusammen. Meine Mutter war so, gegen die ich mein Leben lang opponiert habe, weil ich ihr, so kam das in der Analysezeit heraus, ganz offenbar nie die Trennung von meinem für mich fortan verschwundenen Vater verziehen habe; als das losging, war ich vier. Ich weiß also viel. Aber alles das ist im Kopf. Mein Gehirn ist ausgezeichnet, seine Ratio weiß den Fall genau zu sezieren. Dem Seelenkörper, in dem die Geschwulst sitzt, hilft das aber nicht.
Ich habe also Bilder abgehängt, habe gestern die Bilder aus den Regalen genommen, in denen die Tütchen eingepinnt sind, des weißen süßen Pulvers. Nur eine Fotografie hab ich stehenlassen, in einer Ecke auf den Schallplatten, wo in seinem schmalen Rahmen auch eines der letzten Aquarelle meines Vaters steht, zu dem meine Liebe ebenfalls eine leere Projektion war, eine aber nicht minder, bis heute, lebendige. Sie tut nur nicht mehr, weil er tot ist, weh. Sie schadet auch keinem, denn auch meine Mutter ist unterdessen tot, an die ich kaum je denke, anders als an ihn. Das Glas vor der gleichfalls gerahmten, der stehengebliebenen Fotografie ist sowieso gesprungen, deshalb kann sie bleiben. Der Sprung ist trefflich als Symbol. Die Arbeitswohnung ist eine Art sich ständig veränderndes Museum meines Lebens; ich will nicht Abschnitte daraus verleugnen: was war, war: Das will ich nicht verdecken.
Dennoch, die Geschwulst muß raus.
All das klingt nüchtern, aber der Verstand spricht. Ich scheine im Schlaf geweint zu haben, meine Augen waren verklebt, als ich aufwachte. Aber ich habe keine Erinnerung daran. Als ich, spät nachts, einschlief, hatte noch mit der Löwin telefoniert, war ich trocken gewesen. Dann dachte ich, nachdem ich aufgelegt hatte, irgend eine erotische Fantasie, die ich dann erlöste, würde mich lockern. Eine Erektion gelang nicht, ich sackte übers pure Nichtgelingen weg.

Bin aber ruhig heute früh, ruhiggestellt gleichsam, als hätte der Körper Morphine ausgeschüttet. Was wiederum zur Verlangsamung führt. Ich sitze hier und bin untypisch; dazu der Bach. Kein Selbstmitleid, nein, sondern Beschreibung des Zustands. Das Leben als einen Roman begreifen als, ich wiederhole es, Gerüst, das den Geschehen einen Sinn gibt. Den sie nicht haben. Sie geschehen bloß. Aber wir verfügen über sie, wenn wir sie mit dem Sinn aufladen; tun wir das nicht, verfügen sie über uns. Alles, was wir formend tun, soll die Hilflosigkeit bannen und so drehen, daß wir uns selbst ermächtigen können. Kunst ist eine Münchhausiade. Nicht Don Quixotte, sondern der Baron muß uns Talisman sein, da kann man dann auch lachen. Weil, was er da erzählt, w i r k l i c h komisch ist, anders als der Ritter von La Mancha, der in Wahrheit traurig ist – und nur das. So schreib ich in den Morgen.

Und werde nach dem hier sofort die nächsten drei Abschnitte >>>> Giacomo Joyce‘ vorbereiten, da ich für morgen und übermorgen nicht garantieren kann, ob sie sich andernfalls einstellen lassen. Ab abends dann das nächste >>>> START-Seminar, Lehrtätigkeit, wieder diese schönen jungen willensvollen Menschen, deren, unter anderem, Wildheit wir erhalten wollen. Ich habe die Idee, mit Musik zu arbeiten, wollte eigentlich eine Klangcollage bauen und sie, nicht die Bilder, zur Grundlage der kreativen Prozesse machen, die wir anzustoßen mit den Schülern sind; doch ich hab das nicht geschafft vor lauter anderer Arbeit. Auch Argo, gestern, blieb wieder liegen. An die Neue Fröhliche Wissenschaft denk ich schon gar nicht mehr; aber ihre Datei ist immerhin dauergeöffnet. Vorrangig, nun, sind die Fahnen. Meine SBahn zum Zug fährt um halb eins. Vorher seh ich meinen Jungen noch auf eine halbe Stunde.

Ich Junkie grüße Sie aus meiner innren Entziehungsanstalt. Der Beschäftigungstherapeut hat eben noch mal auf den Giacomo Joyce geklopft, mit den Fingerknöcheln seiner zur leichten Faust geballten Linken, und auch an den Fahnen solle ich auf jeden Fall weitermachen, sagt er. Weil das wichtig sei, daß man für einen geregelten Tagesablauf sorgt.

11.46 Uhr:
Jetzt aber los!

3 thoughts on “Solche Harmonien, die uns betten. Das Arbeits- und erste Neusser Seminarsjournal, nämlich des Freitags, dem 14. September 2012.

  1. Nur Bach Sitze schon im Zug nach Berlin, wünsche Ihnen für den Nachmittag eine gute Reise.

    Ihr heutiger Eintrag hat mich daran erinnert, dass, als ich dachte, ich stürbe, nur Bachs Kantaten mir geholfen haben. Mehr als Trost sogar.

    Bleiben Sie glücklich, PHG

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