Böser Kobold des Erinnerns. Argo. Anderswelt. (279). Nach der Handkorrektur: Argo, Dritte Fassung, S. 401/402.

Nie hatte Goltz das Gesicht vergessen, Brems, nicht die schartige Hauterhebung unterm schrägen Tränensack, nicht die von winzigen Fältchen gekerbte Nase, schon gar nicht den Blick. Er hatte damals nicht mitsuchen können, so dringend hatte er aus dem Osten wieder hinausgemußt. Doch hatte auch nicht im Westen – nicht, als er heil in Koblenz zurückwar, und nicht danach – nach dem Mörder fahnden lassen. Weshalb? Es war mit den KaliTräumen noch gar nicht losgegangen. Die kamen erst später. Er hatte den Osten vergessen wollen. Nichts von dem sollte bleiben, nichts, rein gar nichts in ihm. So reinlich war er gewesen, so strukturiert und so klar. Und später, wenn es schon nachts diese Träume gab, die ihm die wenige Zeit zerfieberten, die ihm zum Schlafen blieb, den Mörder einfach vergessen. Vergessen? – Goltz, bittrig, lachte auf. Da stand sein Instinkt auf dem Schreibtisch. Höhnisch begann er, ein Kobold, zu keckern. Doch war das er selbst. Ungefuggers DNS, die Probe – ach, deshalb war es, sein Unbewußtes, wieder darauf gekommen. Es gab keinen anderen Grund.
Goltz wischte den Kobold vom Tisch. Er stand dem Griff zum Telefon im Weg. Doch das Biest wollte sich halten. Erwischte das Glas Pfefferminztee, kreischte auf, weil‘s ihm die Finger verbrühte, als das Glas umfiel. Und sich ergoß: über die Dokumente, Kommunikationselektronik, Stifte, Karten. Alles ging viel zu schnell, als daß Goltz hätte eingreifen können. Was er auch nicht wollte. Denn die dampfende Teeflut riß den Kobold mit sich, der weiterschrie und mit den Ärmchen fuchtelte, bevor er gegart war. Sein Leichnam ging den Wasserfall von der Schreibtischkante ab zu Boden und verpfützte. Dann gab es einen flachen, elektrischen Knall, ob von Goltzens Rechter, die, während er links schon den Hörer hielt, auf die Platte geschlagen hatte, ob im Computer, ob vom gesottenen Kobold.
„Verbinden Sie mich mit Beutlin…“
Er hatte den kurzen Satz kaum begonnen, wieder beherrscht bereits, da löste sich von dem geschmorten Koboldkadaver ein Rauch, der spirrig und ungefähr aufstieg. Goltz registrierte das im Augenwinkel.
„…gesicherte Verbindung, ja.“
Es ballte der Rauch sich im Raum.
„Und ist noch eine Putzkraft im Haus? Schicken Sie sie her.“
Die wolkenartige Ballung wurde Gesicht. Das schwebte dampfen und rötete sich, halb von Achäerblut verschmiert. Um besser sehen zu können, wischte es sich der Söldner mit dem Ärmel seines linken Armes ab. An dessen Wurzel die Hand, die das Messer umschloß. Das zeigte der Dampf aber nicht. Sondern das war reale Erinnerung.. Diesmal, um ihn zu warnen, ja erstarren zu lassen, zeigte ein KaliTraum sein wahres Gesicht: von Lockung war nun gar nichts mehr an ihm. Sondern dies war das Albreißen Kignčrs’, von dem Goltz noch nichts wußte.
Das Gesicht kam näher und lächelte, Goltz ließ den Hörer fallen: Was eine perfekte Holografie, dachte er, von seiner Angst nun restlich ausgekühlt. „Du hast noch etwas von mir“, sagte Brem. Er sprach mit nasaler, was ganz besonders drohte, Nachdrücklichkeit.
Frau Schneider fand den Polizeichef erstarrt in seinem Bürosessel vor, zwar locker wie selten die Beine übereinandergeschlagen, aber ein Eis, das in die Ferne schaut. „Herr Goltz! Herr Goltz!“ So erschreckt, daß auch sie, die holomorfe Reinigungskraft, beinah erstarrte, an der Linken Eimer und Feudel, rechts hielt sie Kehrblech und Handbesen fest. Noch nie hatte sie solch irren Ausdruck in irgendwessen Blick gesehn, auch nicht in einem dieser Horrorfilme, die Jens, ihr Sohn, so schätzte. Ihr genügten in der Tagesschau die Schreckensbilder völlig.
Sie stand so. Er saß so. Lange drei Sekunden. Dann war ihm anzusehen, daß er wieder dachte. Hatte jemand Fremdes Zugang zu seinem Büro?
Es war der Verdacht, was ihn erlöste. Das Phantasma, außerdem, hatte ihm den Instinkt bestätigt. Es gab keinen schwebenden Dampf, gab nur unten die Pfütze, in die es immer noch von oben tropfte. Und in der offenen Tür die entgeisterte Holomorfe, wie wenn sie abgestellt worden wäre.
„Was stehn Sie herum? – Hier!“ Er zeigte vor sich auf den Boden.
Da kam die Verbindung mit Beutlin zustande.
„Moment eben.“ Das in die Sprechmuschel. „Bitte machen Sie schnell.“ Das zu Frau Schneider.
„Mein Gott!“ rief sie. „Die vielen Splitter!“
Fing mit der Schreibtischplatte an, tupfte sie trocken, achtsam bei den Displays, fast ängstlich an den Tastaturen. Bückte sich hinab. Wischte mit dem Lappen in der blauen, reinigungsbehandschuhten Hand. Wrang ihn, sie wollte sich nicht schneiden, gebückt überm Eimer, ging abermals in die Hocke.
„Das genügt. Ich laufe ja nicht barfuß.“ Mit dem Kinn verwies sie Goltz des Raums. Gleich wieder ins Telefon: „’tschuldigung, Beutlin.“ Haarproben hatte er seinerzeit aus dem Osten mitgebracht. „Fünf Tütchen, erinnern Sie sich? Wo sind die verwahrt?“

>>>> Argo 280 (Um 11.10 Uhr im Link).
Argo 278 <<<< (um 13.40 Uhr im Link).

4 thoughts on “Böser Kobold des Erinnerns. Argo. Anderswelt. (279). Nach der Handkorrektur: Argo, Dritte Fassung, S. 401/402.

  1. Die Katze Erinnerung Irgendwie haben diese Mitlesungen in die Zukunft ja etwas.

    Goltz und die Muckefuck-DNS – na, das ließe ja einiges erwarten für etwaige familiäre Zusammenhänge. Oder ist der Zusammenhang nur ein zufälliger lokaler, kein logischer? Geht es nur um die Haarproben unten als Ungefuggers` DNS?

    Ein Gleiches (um `mal etwas Goethe hineinzubringen), also Anspielungen auf Verwandtschaft, scheint mir auch für die Putzfrau gelten zu können, wenn der Name des Jungen Ihnen nicht versehentlich herausgerutscht ist (was unmöglich scheint). „Jens“ hieß doch auch der junge Jensen? Dann wäre Frau Schneider Frau Jensen. Das aber kann nicht sein, das ist doch eine Asiatin (oder gar Mongolin).

    Ihr „Böser Kobold des Erinnerns“ klingt ein bisschen wie Uwe Johnsons Katze Erinnerung, die immer nicht kommt, wenn man sie ruft:

    “Die Katze Erinnerung, wie du sagst.” – “Ja. Unabhängig, unbestechlich, ungehorsam. Und doch ein wohltuender Gesell, wenn sie sich zeigt, selbst wenn sie sich unerreichbar hält.” (Uwe Johnson: Jahrestage, 2. Februar 1968).

    Also, ich warte auf einen Herrn Brem (der vom „tierleben“ ohne „h“?) und einen Mord.

    Beste Grüße
    NO

    1. Schneiders@No. Nein, lieber Dr. No, das würde in der Tat nicht funktionieren, daß Jens Jensens Frau Schneiders Sohn ist. Aber Sie haben völlig recht: das ist mir herausgerutscht, aus meines Thetis Unbewußten. Das sollte ich in der Tat ändern, gerade in einer Romanserie, worin es wirklich auch um Genealogien geht. Nur als Tip: die Frage ist nicht, wer des Albinos Vater, sondern wer seine – Schwester ist. Sind Sie schon an der Stelle, wo sich der alte Jensen mit seinen Leuten in einem der stillgelegten, aber noch hochkontaminierten Kernkraftwerk verbarrkadiert, um sich und sie vor den Schändern zu sichern? Und Sie werden sehen, wie hier der zu Ihrem jetzigen Lesezeitpunkt sicher schon tote Gerling plötzlich wieder eine Rolle spielt. Daß er eine junge asiatische Frau mitbrachte und zwei Kinder mit ihr zeugte, Zwillinge also, den “Wonneproppen” und ein zweites, das verwachsene Kind?
      ;Mehr sag ich jetzt aber nicht.
      Auf Brem müssen Sie noch mindestens ein Jahr warten; der wird erst in Argo erscheinen. Dazwischen liegt das, allerdings schmale, “Buenos Aires”.

    2. Schneiders Nachtrag. So wurde Jens zu Peter. Im Typoskript. Da der junge Mann nicvht wieder vorkommen wird – wobei, Sie bringen mich auf eine Idee… – nein, haltHerbst! – also da er nicht wieder vorkommen wird, ich schreib jetzt inhaltlich nix mehr um, – da er, kurz, nicht mehr vorkommen wird, geht das. Hier oben laß ich ihn aber “Jens” weiterheißen, schon um Ihren klugen Einwand zu ehren.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .