Hemmung & Lösung. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 30. Oktober 2012. – Was ist in Sandåker?

4.45 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Latte macchiato, Morgenpfeife.
Wollte sofort an Argo, denn heute, sehr wahrscheinlich, werde ich mit diesem Lektüre- und Korrekturgang „durch“kommen: noch 67 Seiten; somit ging‘s doch „fixer“, als ich vor sechs Tagen befürchtet, langsamer aber, als ich vor sieben gedacht habe (hab grad mal in den >>>> DTs‘en kontrolliert). Also wollte sofort an den Text, kam aber dann nicht, schon am zweiten Tag, vom Klo. Absurdes, noch nicht schlimmes, aber in seiner Lästigkeit blödes Problem, mit dem ich noch nie was zu schaffen hatte; doch, als Kind mal, erinner ich mich. Also für warmes Wasser, mit Olivenöl gemischt, Klistierbirne kaufen, Punkt. Nee, Doppelpunkt: noch mehr Säfte trinken als eh schon jetzt während des Säkularramadans. Und wirklich wieder den Sport aufnehmen, mein Körper wollte sich immer viel und kräftig .bewegen; momentan sitze ich von fünf Uhr in der Frühe bis Mitternacht nur am Schreibtisch. Wundern muß mich die Angelegenheit nicht. Tut‘s auch nicht, ist nur lästig. Also bitte, Herbst, die Konzentration mal wieder von unten nach oben richten.
Unversehens war Cordes an seinem Küchenfenster in den Thetisroman zurückge­langt, den Hans Deters, damals im Silberstein, vor sich hinfantasiert hatte, als er sich langsam, auf eine Frau wartend, betrunken hatte, die ihm dann unter der Hand von Niam Goldenhaar zur Lamia entglitt und schließlich auch erschienen war – als ein reales Wesen zwar, aber als Lamia d o c h –
6 Uhr:
Na bitte. Ein großes Glas Gemüsesaft auf Ex hat gereicht. Gut allerdings, daß ich immer Babyöl im Haus hab. Dennoch. Wenn sowas auftritt, hat es einen Grund. Ich bin, seit ich mit zweiundzwanzig/dreiundzwanzig endlich in mich hineinfand, immer körperlich gewesen und habe immer körperlich reagiert: als eine, auch, bewußte Entscheidung. Jetzt der Komplex, locker nach Freud, anale Phase, Autoritätskonflikt, quasi Geiz: nichts hergeben wollen. Da ich gewöhnlich zur Großzügigkeit neige, auch gern mal über meine Verhältnisse weit hinaus, für andere, nicht so sehr für mich selbst (da habe ich meiner Großmutter, bei der ich zum großen Kindheitsteil aufwuchs, Erfahrungen einer ärmlich im Waisenhaus Aufgewachsenen „geerbt“ und die Entsagungs- und Noterfahrungen der meisten, die den Zweiten Weltkrieg erlebten und sich in den Nachkriegsjahren bescheiden mußten), – da ich dennoch gerne gebe, gar nicht drüber nachdenke, dachte ich eben nach: Was will ich nicht loslassen? Tatsächlich gehört Trennungsbewältigung zu meinen entscheidenden, am allerschwersten zu ertragenden Prozessen. Dann fiel mir plötzlich ein: Hm! Es ist eigentlich kein Wunder, daß ich nach siebzehn, nein, jetzt achtzehn Jahren quasi ständiger, teils direkter, teils unterschwelliger Bechäftigung mit Anderswelt, „es“ jetzt, kurz vorm Abschluß, nicht gehen lassen will. Und schon findet mein Körper den Ausdruck, seinen, körperlich eben. Dazu kommt sicher auch, im Sub„text“, die nötige Trennung von meiner Idee von Familie. Und, das ist jetzt typisch, indem ich darüber nachdachte, löste „es“ sich. Das Glas Gemüsesaft war nichts als das, im Wortsinn, innere Schmiermittel. – Spannende Zusammenhänge, vor allem, daß es immer hilft, nicht zu verdrängen, auch und vor allem: es zu sagen. Anlaß dafür wiederum war, daß ich zuerst, als ich über diese Verstopfungs‘chose vorhin im Internet nachsah, folgenden Satz las: „Darüber spricht man nicht gerne“ – woraufhin ich sofort den ersten, frühen, Teil dieses Arbeitsjournales schrieb. Da genau liegt das Problem: „Man“ „tut“ etwas nicht. Sondern frißt es in sich hinein und, ecco!, hält es in sich. Indem ich dieses Säkulartabu übertrat, einfach sagte: seht her, so ist es – löste sich alles auf. Und jetzt hab ich wirklich den Kopf für Argo wieder frei, ich muß nur um zwölf noch zur Fußpflege, was aber ja Genuß ist, Liebkosung, Zuwendung.
– auch Goltz war mit zwei Polizisten, mit Schwanlein und Klipp, in den kultischen Raum der Kneipe geplatzt1. Alles saugt die Anderswelt ein und füllt sich damit: prall will sie sein, nicht distinkt. Leben selbst ist sie, und je mehr die Kultur das Leben von sich hinwegweist, um so gewaltiger wachsen seine Substanzen der Anderswelt zu: da ist dann unendlich viel Nahrung für sie, während wir selbst immer dürrer werden – gleich, ob wir das, uns selber scheinbar erhöhend, ‚vergeistigt’ nennen.

6.30 Uhr:
Ich habe, seit Wochen, eine/n ständige/n Leser:in in Sandåker, Norwegen – sagt das Analyseprogramm Der Dschungel. Das macht mich neugierig, weil dieser Ort für mich völlig fern ist, während ich die meisten anderen Leser:innen-Orte im entfernten Ausland, also deren ständige Zugriffssignaturen zuordnen kann, bzw. hab ich mich dran gewöhnt: immer wieder New York City, immer wieder San Luis Potosi, immer wieder Mountain View, California, und Beverly Hills, immer wieder São Paulo, und während der intensiven >>>> Giacomo-Joyce-Zeit wurde London zum Ort enorm vieler Zugriffe, bisweilen waren es mehr als aus Berlin. Nur dieses Sandåker ist mir wirklich rätselhaft. Ich hab mir den Ort sogar schon >>>> bei Wikipedia angesehn. Die dortige Küste, das macht mich kirre, sieht genau so aus, wie ich sie mir, in Anderswelt, außerhalb der westlichen Europäischen Mauer vorstelle. Zwischen den Schären, in „Argo“ aber eben des heutigen Frankreichs, nämlich >>>> bei Clermont-Ferrand, liegt die Argo, der Fünfzigruderer, versteckt. – Jetzt aber, also, wirklich an den Roman!
Der Geist ist ein Rauch und ganz wie ein solcher das Zeichen, es sei da etwas, das lebte, verbrannt. Die Anderswelt aber, die eigentlich nur ein Hauch war, nichts als Aberglaube Fantasie, fängt organisch zu pumpen an und ist bereits Organ, dachte Cordes. Er war schon seines kleinen Jungen wegen auf Leben verpflichtet, der Junge rettete ihn, der Junge ließ es nicht zu, daß einer wie er abstrahierte. Sondern sein Kind hielt ihn naß.

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