Zu Avaaz und Syrien. Untriest 50: Kühles weites Sonnenglühn. Sonntag, der 22. März 2015.


Arbeitswohnung, 7.56 Uhr
Liebste,

ich bin etwas unruhig. Gestern nacht kam von meiner Wiener Lektorin keine weitere Tranche. Nun ja, Wochenende, aber es kam auch keine Nachricht, so daß ich jetzt nicht weiß, was ich tun soll. Ich möchte ja gerne meine Handkorrekturen des neuen Durchlaufs, dem auf dem Papier, ins Typoskript übertragen, kann das aber erst nach Abstimmung mit ihr tun, darüber, in welcher Typoskriptfassung ich das denn vornehmen soll. Auch weiterlesen, also im fortgesetzten Ausdruck, kann ich erst mal nicht, weil dazu erst die Korrekturen der neunten Tranche übertragen sein müßten, etwas, das sie immer macht.
Bis Mitternacht habe ich gewartet und eben, nach dem bewußt späten Aufstehen, abermals in die Mails geschaut, mir sogar selbst, um auszuschließen, daß etwas mit meinem Email-Postfach nicht stimmt, von einem anderen Account eine Nachricht geschickt; die kam auch gut an. Hm. Was tu ich jetzt? Ich könnte eine SMS senden oder anrufen, will aber nicht drängen; die Frau arbeitet sowieso schon um vieles intensiver an dem Buch, als ich das jemals vorher erlebt habe.

Ich werde mich noch einmal über die >>>> Ecker-Laudatio setzen. Und eben erreicht mich, von >>>> Avaaz, die Nachricht, Assad habe Chlorgasbomben über syrischen Zivilisten abwerfen lassen, darunter vielen Kindern. Ich kann nicht wirklich beurteilen, ob eine Flugverbotszone das Grauen einzudämmen hilft, bin auch ingesamt kritisch, was NATO-Einsätze anbelangt, zumal unter Kuratel einer selbsternennten Weltpolizei USA, aber kommentarlos zusehen kann ich auch nicht. Was immer über Avaaz gesagt und gemeint wird – für mich undurchschaubar -, die Aufforderungen zu Solidaritätserklärungen sind aber insgesamt längst unüberschaubar im Netz eskaliert, – es bleibt die offensichtliche Tatsache der schwersten Völkerrechtsvergehen, und zumindest eine Stellungnahme ist geboten. Wenn auch nur die Chance besteht, etwas durch sie zu ändern, müssen andere kritische Fragen zurückstehn. Sehr viele Intellektuelle, etwa Schriftsteller wie Hemingway, nahmen zum Beispiel am Widerstand gegen Franko teil, kämpfend – was tue, angesichts der Weltlagen, ich? Und was können wir eigentlich tun? Es gibt zwei Welten, die weitgehend versorgte unsre und eine andre, zu der ein Zugang nur dann möglich zu sein scheint, wenn wir eine dritte unterstützen, die dadurch ihre Vormacht sichert, was sie mit Folterlagern wie Guantánamo – nur einem unter vielen – aber ebenfalls tut. Du mußt nur die Laufrichtung ändern, sagte die Katze und fraß sie. So spaltet sich die enger werdende Welt von Hinblick zu Hinblick.
Es ist eben auch anzunehmen Illusion, griffe ich jetzt zum Gewehr (abgesehen davon, daß ich mit einem gar nicht umgehen kann; aber das ließe sich lernen), daß dies etwas bewirkte; es wäre eine Selbstillusion, die alleine nur mir das schlechte Gewissen dämpfte. Denn wenn wir uns umsehen, finden wir unterdessen Tausende Syriens: Welches denn sollen wir wählen?
Ich erinnere mich eines Begebnisses in Mumbai, als लक्ष्मी und ich das Grabmal Haji Ali Dargahs besuchten, das man – es liegt mitten in der Meerbuch vor dem Stadtteil Mahalaxmi – über einen schmalen Damm erreicht, den links und rechts und dicht an dicht Bettler säumen, oft schwer versehrte und kranke. Nach Besuch des Schreins ist es üblich, an einem der vor Grabmal und Moschee aufgebauten Stände etwas zu essen zu kaufen, und zwar nicht nur für sich selbst, sondern ein Gericht auch für einen der Bettler. Und dann steht man da, den Teller in der Hand, und muß unter den Hunderten Menschen wählen. Nie wieder habe ich so deutlich, ja körperlich zu spüren bekommen, wie auf das Unrechttun ich selbst hinuntergedrückt bin. Denn a l l e zu speisen, ist einem einfachen Menschen nicht möglich.

So denke ich in diesen noch kühlen, aber leuchtenden, von einem strahlenden Blau überwölbten Tag, und wie ich Dich heute umarme, hat etwas von Manfred Hausmanns „Liebe“ benanntem >>>> Gebet um Barmherzigkeit.

Dein Alban

4 thoughts on “Zu Avaaz und Syrien. Untriest 50: Kühles weites Sonnenglühn. Sonntag, der 22. März 2015.

  1. Sicher, schwer erträglich … aber u.U. auch nur für uns hilflos zuschauenden Westler.

    Las gestern in einem Kommentar zur ‘Ilias’: “Wenn wir aus den letzten 5000 Jahren eine beliebige Spanne von hundert Jahren herausnähmen, könnten wir damit rechnen, dass davon durchschnittlich 94 Jahre in einem oder mehreren Teilen der Erde umfangreiche Kriege herrschten.” (Trevor Bryce, Life and Society, S. 98)

    Also, so what? Und, um mal persönlich zu werden, ich habe in fast allen meinen Büchern über den Krieg geschrieben. Vom ersten Moment meines Schreibens habe ich mich mit dem Krieg auseinandergesetzt. Hat es etwas bewirkt? Außer, dass die Leute meine Bücher nicht lesen wollten? Natürlich nicht. Ich habe den o.a. Durchschnitt nicht um eine halbe Sekunde verringern können. Vermutlich hätte ich besser Waffenhändler werden sollen.

    Wünsche allen einen chlorgasfreien Sonntag!

    1. @PHG. Den diesen Kommentar beschließenden “Wunsch” empfinde ich als auf sehr zynische Weise geschmacklos, lieber Gogolin. Ich denke einmal er ist Ihnen “herausgerutscht” wie eine >>>> Reaktionsbildung, hinter der, als Abwehrform, die sie ist, eine in diesem Fall berechtigte Hilfslosigkeit steht. Ich teile diese Empfindung.
      Mir ging es in meiner Notiz vom Morgen aber nicht ums Bücherschreiben; deshalb nannte ich Hemingway, der sein politisches Engagement eben nicht auf seine Literatur beschränkte, sondern in den persönlichen Eingriff ging, ins tätige, kämpfende Engagement. So taten einige seiner Generation. Daß Bücher keine Kriege verhindern, sie nicht einmal beinflussen können, scheint mir längst ein Gemeinplatz zu sein – es sei denn, sie befördern das noch, was ohnehin befördert ist, “handeln” also im Sinn einer Verstärkung, etwa als Agitation.
      Im übrigen war es nicht der Krieg-als-solcher (wenn es so etwas überhaupt gibt), was mich heute morgen traf, sondern die gezielte und quälende Vernichtung von Menschen, zumal Kindern, während ich mir geradezu unbesorgt einen Latte macchiato bereite und unuhig nur deshalb bin, weil eine erwartete Lektoratstranche ausblieb. Meine Unruhe wurde auf eine für die Betroffenen grausame Weise bizarr und erschien mir genauso zynisch unangebracht wie Ihr Sonntagswunsch. Ein “so what?” ging in diesem Moment nicht mehr, egal, ob Mr. Bryce recht hat und/oder noch in zweihundert Jahren recht behalten wird. Hinzu kommt, daß es der sogenannte Islamische Staat durchaus schafft, Tausende Menschen auch dann zu rekrutieren, wenn sie ihr Leben riskieren, indessen humanitäre, nicht-gewaltsame Anliegen in dieser Hinsicht versagen.

    2. Unser aller Hilflosigkeit … macht mich zunehmend müde. Sehen Sie es mir bitte nach. Oder auch nicht …

      Und ein PS: Nur der ist zynisch, der zynisch handelt.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .