III, 159 – Abendschatten

Seit gestern unter den oberen Blättern meiner Strahlenaralie vor der Tür eine Gottesanbeterin, gestern noch horizontal, jetzt leicht oblique, bewegte tatsächlich ihre Fühler, als ich kurz nachschauen ging (vielleicht zigarettenrauchempfindlich), aber nur in einer nach aufwärts bzw. abwärts gehenden Richtung, da sie nach unten hängt, um dann wieder nichts weiter zu unternehmen. Und in ihrer länglichen Gestalt fast schon ein horizontales Abbild des >>>> Abendschattens.
Der kleine dreieckige Kopf, fast unmerkliches Bewegen mundähnlicher Werkzeuge. Die fressen ihre Männer.
Daß ich ebenso stille stand, kann ich nicht behaupten. Der scheinbar reglos auf den Schreibtischstuhl angeheftete Unterleib mit seinen Extremitäten fuhrwerkt, steht in direkter Verbindung mit dem Blick auf die Uhr wegen der nächsten Pause. Und zappelt in Gedanken schon los. Aber ohne den Hof zu verlassen. Wo er verwundert einen Haufen Hundescheiße im schmalen Beet bei der Passiflora und ansonsten ein reges Sprießen kleiner grüner Pflänzchen bemerkte. Da hübscht’ es lächelnd über sein Gesicht, wie ich gestern abend ohne Apostroph notierte, als Tullia und der junge M., den es vom Kaiserstuhl nach Leipzig verpflanzt (siehe >>>> Nr. 158), sich stikum und quasi zum Essen eingeladen. Höflicherweise ließen sie mir Zeit zur entsprechenden Vorbereitung.
Immerhin reichten die Zutaten für drei. Wie ich auf den Satz kam, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich war mir danach, mit einem obliquen Satz Eindruck zu schinden. Tatsächlich fragte ich ihn, als wir noch ein Bierchen tranken bei Valda (die nicht da war), wie alt er sei. Meine Einschätzung war durchaus richtig.
Er sei jetzt eigentlich obdachlos, wohne mal hier, mal dort bei Freunden. Und insistierte auf seinem Trauma, von dem schon vorgestern die Rede war: er habe mit einem zusammengewohnt in Leipzig, der noch zu DDR-Zeiten eine Sportlerlaufbahn absolviert mitsamt einer Medaille (Ringer), und der habe ständig geredet über das, was er in den Nachrichten gehört und gesehen, und der dauernd von “wir” sprach und ihn als “ihr” titulierte in einem gewissen Sinne. Also ein beständiges Vollgelabertwerden. Und schließlich dieses wahrscheinlich daraus resultierende Höhlendenken: entweder sich einigeln in Leipzig oder in Freiburg (Heimspiel wegen der Kaiserstuhl-Herkunft) Mathematik studieren, aber als ein Mittel, sich auszugrenzen. Nun, ich erzählte ihm, wie ich Mitte 20 eine ähnlich desperate Situation erlebt hätte. Hinter unserem Tisch wurde laut Geburtstag gefeiert. Im Grunde Kinder, die an uns vorbei hin- und herliefen. Ein Mädchen fiel mir auf, die ein Mädchen noch war, aber (wahrscheinlich von den Eltern) auf Frau gestylt war. Ganz in rot-weiß gekleidet, ein aufgebauschter Haarschopf. Hübsch auf jeden Fall, stellte sich auch brav zu den größer gewachsenen Freundinnen, die eben nicht so hübsch aussahen. Aber es war schon alles Rolle. So ein Dazugehören spielend, wo sie eigentlich lieber spielen sollte. Eltern, behauptete >>>> Aldo Busi immer im Fernseh’, so lange ich noch Fernseh’ sah und ihn wohl auch las (mir gefiel sein Italienisch, egal, ob er nun beschrieb, wie man sich in Marokko unter Männern gegenseitig vergewaltigt), seien Verbrecher. Nun gut, viel konnt’ ich nicht anfangen mit dem jungen Mann (er 26, ich 62), hoffentlich er mehr mit mir. Good luck.

III,158 <<<<

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