III, 327 – Verwahrlosung

Nein, —> Absprachen gab es keine. Ich wartete einfach auf ANH. Und erteilte mir dadurch die Erlaubnis, mal nichts aus meinen Fingern zu saugen, aus denen nichts zu saugen, aber von denen immerhin zuweilen etwas abzusaugen. Und seien es Knoblauchrückstände. Pfefferrückstände spüle ich lieber gleich ab, man reibt sich sonst damit die Augen. Jedenfalls solange die Hundstagswärme anhielt, bekam ich vorm Bildschirm dauernd feuchte Augen, als weinte ich. Zwar ist einem zuweilen zu heulen zumut’, wenn man meinetwegen wegen einer Arbeit auf >>>> ‘Fahrstuhl zum Schafott’ verzichten muß, den ich tatsächlich gern gesehen hätte (ich meine natürlich den Film und nicht den Fahrstuhl). Und kam somit zu nichts Wirklichem außerhalb der Arbeit, unbeschadet der Lektüre, aber ZT muß wieder leiden und die ganze Badeteichangelegenheit, bei der ich gerade war. In der Verwahrlosungszeit zu augusteischen Zeiten kam ich noch auf fünf Seiten, schraubte es dann runter vier, dann auf zwei, um beim derzeitigen Nullpunkt zu verharren. Während ich mir vorm Bildschirm ständig die Augen trocknen mußte.
Gestern eine unheimliche Nervosität. Vor zwei-drei Wochen ward über die üblichen Amelia-Seiten bei FB ein kostenloser Japanisch-Kurs angekündigt. Da war ich gleich spontan begeistert und kontaktierte die Ankündigende. Die mir allerdings beschied, daß wegen der Kostenlosigkeit die verfügbaren Plätze ruckzuck in Beschlag genommen worden seien. Die Neugier halt. Hängt zusammen mit meinen Überlegungen damals, was ich studieren sollte. Japanisch gehörte dazu. Aber daraus wurde dann nichts. Mein Nervössein entstand dann durch die Nachricht der Ankündigerin, es sei ein Platz frei geworden. Hilfe! Jeden Donnerstag, hieß es im beiliegenden Anmeldeformular, zwei Stunden von Oktober bis Juni. Schriftzeichen malen. Und wenn dann eine Arbeit abzuliefern ist? Ich dachte an den verpaßten Film. Auch an Unpäßlichkeiten wie die Hautgeschichte im Spätwinter und Frühling. Ich habe also abgesagt. Gut, daß ich die Ankündigerin nicht persönlich kenne. Aber plötzlich stellte ich mir dann doch Schulsituationen vor, in die ich nicht unbedingt hineingehöre: “Hey teacher, leave us kids alone!”
Und sie, die Ankündigerin, sieht man auf ihrem FB-Foto schwerbusig auf einem Pferd reiten. Was, bitte, hätte mich da erwartet? Jeder Schreibfehler ein ‘kuce, kuce’ ohne die Möglichkeit einer Retourkutsche.
Lassen wir’s also: mir möge genügen Barthes’ ‘Im Reich der Zeichen’. Und meinetwegen >>>> ‘Genji Monogatari’ (tolles Buch, las es auf Italienisch (die Anschaffung beruhte darauf, daß ich zu meinem 40. von ihr eine Swatch mit japanischen Ziffern geschenkt bekam, die sinnigerweise unter dem Namen ‘Genji’ vertrieben wurde, sowie darauf, daß ziemlich gleichzeitig dieser Roman auf Italienisch erschien)).
Soweit sogut sohalb und viertelsmäßig. Denn in derselben Zeit plagte mich die Vorstellung, zur Post gehen zu müssen wegen eines Briefes, den ich geschrieben, weil mir jemand ein Buch von sich geschickt, worüber ich mich gefreut. Aber die Post liegt unten und bedeutet einen mühseligen Rückweg hügelauf. Ich erledigte das dann mit dem Auto. So!
Mir aus meiner Nervosität herauszuhelfen, eilte dann Eigner mit seinem >>>> ‘Brandig’ herzu. Eigentlich wollte ich meinen Eintrag zunächst auf diese Hymne auf die Verwahrlosung beschränken, in deren Strudel ich hineingeriet, ohne mich im geringsten zu wehren, anzi! Zunächst hatte ich mir notiert: “Ging in die Steine. Nach oben.” Das bezog sich auf die Aufwärtspflaster auf dem Weg von der Post zu mir. Aber dann kam’s gleich ein paar Zeilen weiter:

Es ist nicht zu glauben, wie heilsam Verwahrlosung, vor allem gezielte, tätig strebsame, auf eigene Faust betriebene Verwahrlosung ist. Ich kann sie jedermann nur wärmstens ans Herz legen – und auf die Haut. Auch solchen, die nicht gerade unter spezifischen krankhaften Veränderungen der Epidermis leiden wie ich. Verwahrlosung hilft jedem. Ich weiß, wovon ich spreche. Nichtsdestoweniger weiß ich, wie schwer – wenn nicht schier unmöglich – es ist, sich die einmal erkämpfte Verwahrlosung zu erhalten. Einmal glücklich die alten Regeln und Gewohnheiten überkrustende Verwahrlosung ist keine Garantie. Nicht einmal die Einverleibung der Verwahrlosung ist eine Garantie. Früher oder später kehrt ein jeder zu den unausrottbar in die Bodenlosigkeit seiner zartesten Anfänge gepflanzten Tugenden zurück. Umso nötiger ist Verwahrlosung. Auch wenn sie alles andere ist als ein Geschenk. Verwahrlosung ist ein Geheimnis. Ein Geheimnis doppelten Glanzes. Eines, in das es einzudringen gilt, und eines, das es gilt, eindringen zu lassen in sich. Was auf der Hand liegt. Denn es geht sowohl um äußere als auch um innere Verwahrlosung. – Eigner, Brandig, 178 f.
Dies aber erst das Präludium zur Hymne auf die Verwahrlosung.

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