Ungeheuer der Vernunft. Das Arbeitsjournal des Freitags, den 6. Oktober 2017.


[Arbeitswohnung, 5.20 Uhr
Stille, auch durchs geöffnete Oberfenster
Erster Latte macchiato & Morgenpfeife]

Nein, Freundin, ganz zu rauchen aufgehört habe ich nicht, auch wenn die mich bisweilen treffenden – übrigens in dieser „Sache” so oder so – abschätzigen Blicke dies zu vermitteln scheinen: Die weiterhin rauchen, sehen in mir nicht selten eine Art Abtrünnigen, wenn ich an meinen eCigarren sauge und also „dampfe”; die e-Szene spürt, ich gehöre nicht zu ihr; die Nichtraucher sehen mich als einen Subversiven, der die Erinnerung an die Kultur des Rauchens nicht nur bewahren will, sondern auf ihr beharrt. Alles stimmt auch ein wenig. Unterm Strich bin ich einmal mehr nicht, wie sag’ ich’s?, eingemeind- und subsumierbar? In jedem Fall ist wahr, daß ich bewahren will, ganz wie in der Literatur; wahr ist aber auch, daß ich nach vorne gucke und mich das Vorne höchst interessiert.
Mit dem Bewahren ist es doch eine, abermals, „Sache” für sich. Es bewahrt sich, wir sind dazu gar nicht nötig. Der Unterschied besteht darin, ob wir es wissen oder unbewußt getreidelt werden. Die – meine Güte, diese S p r a c h e!, wie sie verdinglicht!! – Dinge haben sich eingeschrieben und wirken subkutan weiter; die mythischen Drachen tauchen in Spielfilm und Computerspiel auf und behaupten ihr altes, in der Aufklärung, schien es, verlornes Terrain, die Dämonen kehren durch den Computer zurück. Das Mittelalter ist ewig, heißt es in der frühen Kark-Jonas-Erzählung und wird bald zwei Jahrzehnte später zum durchaus diabolischen Leitmotiv des >>>> Wolpertingerromans. In der Zukunftswelt der Andersweltbücher packt ein Polizist seinen Waffensack. Nicht Schlamperei oder Fehler, wie >>>> Wilhelm Genazino mir einst vorwarf, sind solche Konstruktionen, sondern ein Erkennen. Was meinen denn, Verehrte, S i e, wieso wir solch ein religiöses Aufflammen wieder haben? Nein, nicht nur im fundamentalistischen Islam, auch bei den Christen, Sekten und allen Esoteriker:inne:n. Wenig hat dies mit der scheinbaren Unübersichtlichkeit der Welt zu tun; ihre Erscheinungen sind doch im Gegenteil zwar komplexer, aber auch durchschaubarer geworden. Wie ich gestern >>>> ChristineH geantwortet habe: Noch nie waren die Wege in das Wissen so groß und damit auch in die Erkenntnis dessen, was vorgeht. >>>> Jimmy Wales, der Wikipedia-Günder, hätte fürwahr den Nobelpreis verdient. Man wird ihn ihm nicht geben.
Es hat etwas damit zu tun, daß mehr oder minder unbewußt Entfremdungsprozessen gewehrt wird, die in mehr als gleichem Maß schärfer vorangetrieben wurden, als vielleicht selbst Marx es sich dachte. In Deutschland zumal, wo sich ein Mensch, der von klein auf das Land um ihn bebaut und mit ihm deshalb verwächst, verdächtig macht, wenn er an seinem Boden hängt: sofort wird „Blut” hinzugedacht, dazwischen das „und”. Doch Menschen reagieren auf Heimat; fühlen sie sie bedroht, wählen sie die AfD und damit aber erst recht, was sie entfremdet. Das ist die bizarr-paradoxe Struktur: in der sich globalisierenden Welt eine der Ausweglosigkeit und dreifach in sie hinein. Der dogmatische Modernismus führt in den Verlust der Rezipienten und schließlich in elitäre, künstlich am Leben gehaltene Zirkel, der pure Konservatismus ins Erstarren.
Wir müssen die Dynamiken verbinden, ihnen in den Künsten einen Ausgleich schaffen: Blick in das Neue auf dem – sic! – Boden des Alten, das auf das Neue doch zuführt, das nicht nur ein Reflex auf es ist, sondern es als Kern bereits in sich enthält. Daher mein, ist es denn einer?, Rückgriff auf die alten Formen. >>>> „Moderne Gedichte sind das aber nicht.”

Hierüber möchte ich am Wochenende mit meinen >>>> Seminarist:inn:en sprechen.

Um 14 Uhr geht meine SBahn zum Zug, um 19 Uhr treffe ich Do bei Paquale, morgen früh um zehn geht es los. Ich habe noch einiges vorzubereiten – „Bücher zusammenzustellen” dachte ich eben, bis mir, kaum eine Viertelsekunde nachher, einfiel, daß sich die großen Texte doch leicht übers Netz aufrufen lassen. Den „Rest” tut unser Gehirn, und das Herz. – Ah, sehen Sie?: Kommaregeln.
Weshalb hier ein Komma vor „Herz”, wo es grammatisch nicht hingehört? Liest es wohl jemand als Pausenzeichen? Viertel- oder Achtelpause? In der Tat, wie lange halten wir vor dem „und” den Atem denn a n?
„Du gibst deinen Lesern keine Freiheit”, so ein nächster der Vorwürfe, die ich mir lebenslang anhören mußte. – Nein, gebe ich nicht, denn man nimmt sie sich selbst. Sonst ist sie keine. Die Freiheit, die „man” uns gibt, ist illusionär.
Auch dies hätte ich Ana vorgestern abend sagen können: Wer auf die Bedürfnisse der Leserschaft zuschreibt, verunmündigt sie. Oder es ist der Ausdruck der eigenen Unmündigkeit, so daß sich die Unmündigkeiten wohlig ergänzen. Wir sind ein Volk. Keine Lektion der asymmetrischen Kriege gelernt.
Meine Bücher sind alle Guerilla. Der Literaturbetrieb hat es von Anfang an schon richtig gespürt. Kein eignes Erreichtes, auch nicht das meine, lehne sich wohlig zurück.
So auch heute nicht >>>> Ecker: „Der Hauptdarsteller sollte einem irgendwie bekannt vorkommen, ohne daß man genau sagen könnte, wo zuvor man ihn schon gesehen hat.”

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So daß ich eben dachte, er schreibe in solchen Stücken das „Projekt Kafka” fort, doch ohne daß wir in sonstiger Weise an diesen erinnert würden,vor allem nicht sprachlich. So sehr liegt’s auf der Hand, und hat es zu liegen, daß Ecker kein Jurist ist.
Aber die Welt macht sozusagen zu, doch in definierten („sicheren”) Modulen: Moderne Gedichte sind das nicht. Und dieses einem, dem an anderer Stelle >>>> „die am weitesten vorangetriebene literarische Ästhetik im Zeitalter der Digitalisierung” zugeschrieben wurde; verkannt aber auch hier die Wirkmacht des Alten, die alle drei Romane durchzieht – bis zur Wiederverwendung des Hexameters in den Passagen des den Osten durchfahrenden „Achäers” und dem Bezug schon im ersten Band auf die archaischen Mythen, die wiederum Kühlmann im Wolpertinger erkannte. Es ist hochinteressant, daß beide Autoren, Kühlmann und Schnell, ganz verschiedene meiner Bücher favorisieren; auch sie bringen das Voraus mit dem Rückwärts kaum ineins.

Liebste Freundin, klar, Sie können nun sagen: So lange bleibt die Kraft erhalten. Dem mag auch so sein, aber nur dann, wenn die Leute die Bücher auch lesen und sie zuvörderst einmal kaufen. Da steh ich nun, wo Kleist schon gestanden und viele vor ihm, viele danach.

Was empfehle ich meinen Seminarist:inn:en? Das zu tun, was ihnen den Markt verschließt? Den Innenbewegungen der Kunst zu folgen, sofern sie sie spüren, auch wenn dies bedeutet, gemieden zu werden? Oder zeige ich ihnen, wie’s die großen Schreibschulen tun, sich mit gutem Handwerkskönnen pfiffig in die bereiteten Betten zu legen? Die ja schon auf sie warten, jedes Jahr auf mindestens eine und einen?
Der deutsche Buchpreis schließt, was wirklich gärt, aus. Was nicht bedeutet, daß nicht hervorragende Autor:inn:en ihn bekämen. Doch, es sind welche darunter, aber eben auch nicht. So daß sich selbst der Büchnerpreis schon arg nach der Decke gestreckt hat.- „Für unsere Zeit auf paradoxe Weise zu gebildet”, hat über mich einmal jemand geschrieben. In der Tat, absurd, denn ich habe von so vielem keine Ahnung und bastele wie alle die Welt mir zurecht – worin ich indessen, wie jeder andere Verschwörungstheoretiker, auf Konsistenz achte, mithin auf die Harmonie des Text- und ergo Weltgefüges, das er darstellt. „Harmonie” ist hier freilich kein gefühliger Begriff des Wohlbefindens, sondern eher gefaßt wie das Verhältnis Schiwas zu Wischnu. Liebe ist süß, aber bitter. Wir sehen uns an und wir wissen, doch ist da kein Weg, keiner m e h r, jedenfalls keiner, den wir auch sähen. Und sollen nun sagen, wir liebten uns nicht?
Also wir schweigen und bauen am falschen Haus weiter. Wobei, was alles kompliziert, es dennoch auch ein richtiges sein kann, „auch ein richtiges”, eben, u n d zugleich, das aber das andere ausschließt. – Damit sind wir im Kern meiner Dichtung.
Wahrscheinlich ist es das, was die meisten Menschen sie nicht aushalten und gemeinhin ablehnen läßt. >>>> Es saßen drei Engel beisammen.

Der Engel Ordnungen


Keine Beruhigung, Freundin, so sehr dies auch schmerzt. Sich aussetzen, weiter. Uns, Liebste, aussetzen. Uns uns, uns anderen, anderen uns. Und davon uns erzählen. Der Schmerz geht tief, die Lust aber auch. Bisweilen erreicht sie das Ausmaß von Glück. Niemals, niemals lau sein! (Wen hab ich schon alles verwundet).
Mein Antipode ist Enzensbergers Primat des Mittelmaßes, das politisch – ecco: – vernünftig sein mag, künstlerisch aber das Ende. Nicht der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer; sie ist zu einem „selber” geworden.

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