„Hier hat sie immer gesessen.” Das Arbeitsjournal des Donnerstags, den 5. Oktober 2017. Am Morgen nach der Lesung. Was modern sei.


[Arbeitswohnung, 8.48 Uhr
Winbeck, Zweites Streihquartett]

„Schreiben Sie immer so intensiv?” fragte mich nach >>>> der Lesung eine Hörerin, die mit Meere in der Hand nach vorne gekommen war, um sich das Buch signieren zu lassen. Es kann auch sein, daß sie den Satz als Feststellung sprach. Ich weiß es nicht mehr – nur noch, daß sie sich auch nach >>>> den Bamberger Elegien erkundigte, mit deren letzter ich den Abend abgeschlossen habe. „In welchem Verlag ist das erschienen?” „Bei >>>> Elfenbein.” Was ihr nichts zu sagen schien, doch war nun der Name eingeprägt.

Bamberger Elegien


Moderne Gedichte”, sagte wiederum Herbert Wiesner später, der vorige Leiter des >>>> Literaturhaus es, „sind das n i c h t.” Ich antwortete: „Darauf kommt es auch nicht an. In der historischen Draufsicht ändert sich ohnedies, was modern sei.” Leider fiel mir die eigentlich richtige Ergänzung erst heute morgen ein: „Es kommt darauf an, daß sie gut sind, alles andere ist Tand.”
Weil eben Intensität tatsächlich das Schlüsselwort ist. Auffällig ist doch, wie so vieles, das auf „Modernität” angelegt war und sie oft auch erfüllte, keine zwanzig Jahre später vor Grünspan kaum noch zu erkennen ist, indessen anderes zu seiner Zeit Unzeitgemäßes einfach bleibt. Hierüber wäre in der Tat ein Gespräch zu führen. Elvira M. Gross (>>>> „Über das Wesen der Liebe in der Literatur”) hatte genau dies in ihrer unendlich sensitiv-sinnlichen Art während der gesamten Moderation deutlich zu machen versucht, und ich hatte den Eindruck, daß ihr viele Hörer:innen folgten. Das geradezu erschreckend-berauschende ist, wie ihre Haltung körperlich zu sehen ist – als gingen Wellen von ihr aus. Sie spricht fast durchweg nach innen, wobei die Verständlichkeit spannenderweise über den österreichischen Dialekt gewahrt bleibt… nein, nicht „Dialekt”, sondern „Sprachmusik”. Wo ich selbst hart wirken mag, oder sagen wir: unerbittlich, fügt sie eine Verletzlichkeit hinzu, die keines Herz verschlossen läßt. Sie ist für meine Dichtung in der Tat die beste Anwältin, die sie hätte finden können.

Zu Anfang der Lesung, als wir das Podium betraten, fand wiederum ich selbst zwei Geschenke an meinen Leseplatz gelegt, die Zigarren von dem Profi, der zu meiner großen Freude hinten im Publikum saß, und eine noch jetzt verschlossene Gabe mit rotem Bändchen von Ana, meines Freundes >>>> Broßmanns Gefährtin, der ebenfalls gekommen wa:

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Zu meiner Erleichterung war erstens der Saal zwar nicht ausverkauft, doch sehr gut gefüllt, und zweitens Elvira deutlich nervöser als ich.

[Winbeck, Fünfte Sinfonie]


Besonders spannend – weil nicht ohne biografische Ambivalenz – die Anwesenheit meines nun nahezu erwachsenen Sohnes, der seine eigene Zeugungsgeschichte zwar deutlich fiktionalisiert, aber für ihn spürbar zu hören bekam und möglicherweise nun auch lesen wird. Er ist sinnenhell genug, um hinter der Romangeschichte die Geschichte zu spüren. Der Text sei, sagte er später unten im Café, wie wenn man in eine Trance fiele – in eben die Wellen, auf die Elvira mehrmals als Gestaltungsprinzip und Eigenbewegung des Romanes hinwies. Sie hatte sich sowohl auf die Spuren von >>>> Lukannon gesetzt als auch Kiplings „Die Wellen” erkannt und schob nun die treibende Kraft dieser beiden Gedichte ins Zentrum ihrer Darstellung. Vorher, in unserem Vorbereitungsgespräch, wies sie auch völlig zurecht auf den Namen dieses literarischen Unernehmens hin, Die Dschungel eben, „auch das ist von Kipling; wieso konnte er solchen Einfluß auf dich gewinnen?”
Ich hatte Kipling früh gelesen, aber seine Bedeutung wurde mir erst durch Bemerkungen Jorge Luis Borges‘ klar, und zwar genau zu diesem Wellengedicht, dessen Formprinzip ich fast zwei Jahrzehnte später in Meere übernahm.
Es hilft, so etwas zu wissen – auch wenn Ana am Cafétisch monierte, ich schlösse mit dieser Art des Arbeitens sehr viele Leser:innen aus, die eben nicht über solche Bildung verfügten. Damit rührte sie an eine für Kunst prinzipielle Frage; wenn nämlich allgemeine Zugänglichkeit zur conditio sine qua non wird, wird sie sich in einer Zeit zunehmend verflachen, die Bildungsinhalte nicht mehr vermittelt. Deshalb gehört, dies zu tun – also zu bewahren – zu den „Aufgaben” der Künste mit. Sie sind ein Archiv unserer Herkünfte – und ihrer, das ist wichtig, Vermischungen. Wer will, kann es öffnen und betreten. Da paßt der heutige Morgen>>>>ecker geradezu unheimlich, in dem auch der schlaghafte Satz „Wasser ist das Gegenteil von Umblättern” steht:
Nein, nicht schlecht geschrieben, sondern schlecht gelesen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? (…) Sie kennen doch sicherlich dieses blendende Gleißen, wenn umgeblättert wird, wenn zu rasch umgeblättert wird und man kaum noch nachkommt, Sinn in den Geschehnissen zu erkennen (…).

„Immerhin”, schloß Wiesner seine Kritik an meiner Nicht-Modernität (sie meinte allerdings nur die Poetik meiner Elegien, schlimmstenfalls meiner Gedichte insgesamt, nicht aber etwa meine erzählende Literatur), „… das hat man auch nicht oft, daß jeder Satz makellos ist.” Ein gespaltenes Lob, freilich. Denn den inhaltlichen, wohl auch formalen Weg mag es nicht teilen. Indessen mir der Profi vorhielt, ich läse hätte Hörer:innen mal wieder totgelesen – sprich: läse schlichtweg zu lange. Womit er vielleicht recht hat. Ich lasse mich von den eigenen Strömungen treiben, mag dann nicht mehr ans Ufer. Auch Elvira meinte, so gut die Elegie gepaßt habe, ohne sie wäre der Abend nicht weniger intensiv gewesen. Und – das Wort stimmt fast: – natürlich kam einmal wieder die Frage nach Hörbüchern auf, die ich selbst einspräche. Ich konnte nur antworten, wie ich es seit Jahren tu: „Es gibt keinen Markt dafür. Die Leute, die immer wieder danach fragen, garantieren nicht den Absatz, den solch ein Projekt wirtschaftlich brauchte.”

Gut, liebste Freundin, an die Arbeit. Allerdings werde ich vor elf noch einmal unterbrechen müssen, um durch den mal wieder Regen zur Fußpflege zu radeln. Ist mir wichtig, anders fühle ich mich unwohl, zumal vor einer Messe.
Bin ich zurück, werde ich in den Ghostroman weiter die Nachträge einpflegen und mir dann die fünfte der alten Erzählungen vornehmen.

6 thoughts on “„Hier hat sie immer gesessen.” Das Arbeitsjournal des Donnerstags, den 5. Oktober 2017. Am Morgen nach der Lesung. Was modern sei.

  1. Alban, ich bezweifle ja, dass ich die notwendige Bildung für Deine Literatur habe und doch habe ich das Gefühl bis zu einem gewissen Grad sehr gut in die „Wellen“ einsteigen zu können… Vielleicht braucht es eben nicht nur die Geistes-Bildung? Vielleicht auch die Herzensbildung, um zu schwingen mit dem was an Wellen spürbar wird?

    1. @ChristineH Nein, ich glaube auch nicht, daß frau/man die Bildung immer faktisch braucht – aber dann ist der Wille, ja Wunsch nötig, sich einzulassen. Daran hapert es, denke ich, bei vielen. Denn alles andere ließe sich ja finden. Der Zugang zum Wissen war noch nie so leicht wie heute – doch scheint ihn genau das zu versperren.

      Siehe auch die Anmerkung des Literaturveranstalters >>>> im Katzen-der-Wahrheitsjournal von vorgestern. Es ist nicht unbezeichnet, daß solche Beobachtungen, werden sie mitgeteilt, nicht einmal abwehrende Reaktionen bekommen.

    1. (die Unsichtbarkeit liegt an einem fehlenden oder deaktivierten Adobe Flash-plug in, mit dem die eingebettete Diaschau abläuft. Firefox warnt standardmäßig vor Flash, man muss es eigens aktivieren…. daher sehe ich die slideshow hier)

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