Kastanlatio ODER “da er ihr Haar besessen hatte”. |
Nabokov lesen, 40: Ada oder Das Verlangen, 2. Teil II: Nachtrag zu Kapitel 22.

Mit welch einer poetischen Schönheit geschrieben, erotical vollständig incorrect! (Machen wir uns bewußt, daß die Liebenden hier – und Liebende, eben, s i n d sie – Kinder sind, wenn auch selbstverständlich mitten in oder gegen Ende der Pubertät, im Geiste aber nicht frühreif, sondern frühe w e i s e, utopische (im humanistischen Sinn) Geschöpfe, beider Geist ist der von uralten Volksgeistern, Elben, Vilen, Sidhe, zumal sie die Mythen von Geschwisterpaaren wiederaufleben lassen und zugleich den “Inzest” in ihren Gesprächen thematisieren:

“Physisch”, fuhr sie [i.e. Ada, (ANH)] fort, “sind wir eher wie Zwillinge als wie Vetter und Cousine, und Zwillinge oder auch nur ein Geschwisterpaar können natürlich nicht heiraten, oder sie werden ins Gefängnis gesteckt und kastriert, wenn sie weitermachen.”
S.184

Wogegen Nabokov – jedenfalls der Erzähler dieses allein schon in seiner Freiheit grandiosen Buches – knapp zwanzig Seiten vorher deutlich einspricht:

Zu jener Zeit meinte in diesem Lande “Inzest” nicht nur “Unzucht” (…), sondern bedeutete auch (in dem Ausdruck “inzestuöser Beischlaf” und so weiter) ein Einmischen in die Kontinuität menschlicher Evolution. (…) Angesichts solcher Erwägungen konnte “Inzest” nur insoweit ein Verbrechen genannt werden, als Inzucht kriminell zu nennen wäre.
S. 165

Das genau ist der Punkt. Denn zumal ist, wie ich andernorts selbst einmal schrieb, im Zeitalter der Verhütungsmittel der Inzest wieder möglich geworden. Ich habe den Aphorismus damals “Hoffnung” betitelt. — Doch was ich eigentlich erzählen möchte, indem ich es zitiere, ist, daß

Ada und er sich am Rande des Wasserfalls in der Lärchenschonung von Ardis Park sonnten und seine Nymphette sich über ihn und sein detailliertes Verlangen gebeugt hatte.

Allein schon “sein detailliertes Verlangen” ist, als Umschreibung einer speziellen anatomischen Stelle, schlichtweg himmlisch.

Ihr langes, glattes Haar, das im Schatten von eintönigem Blauschwarz zu sein schien, offenbarte nun unter der funkelnden Sonne Beimengungen von tiefem Kastanienbraun abwechselnd mit dunklem Bernstein in den langen Strähnen, die ihre ausgehöhlte Wange bedeckten oder von ihrer erhobenen Elfenbeinschulter anmutig geteilt wurden. Beschaffenheit, Glanz und Geruch jener seidigen braunen Streifen hatten einst, am Anfang jenes schicksalhaften Sommers,

wir könnten von einem durch Eros geadelten Bullerbü sprechen (selbstverständlich sind nur zwei der älteren Kinder gemeint), einem Venusberg beginnender Jugend, der sich über diesen Teil der Erzählung als ein nicht leuchtender, nein strahlender Himmel wölbt,

seine Sinne entflammt und wirkten weiter auf ihn, stark und stechend, noch lange nachdem seine junge Erregung andere Quellen unstillbarer Wonnen in ihr gefunden hatte. Mit neunzig erinnerte sich Van an seinen ersten Sturz vom Pferd mit kaum geringerer Atemlosigkeit bei dem bloßen Gedanken als an das erste Mal, da sie sich über ihn gebeugt und er ihr Haar besessen hatte. Es kitzelte seine Beine, es kroch in seine Leistengegend, es breitete sich über seinen ganzen zuckenden Bauch. Im Durchblick konnte der Kunststudent den Gipfel der trompe-l’œil-Schule erkennen, monumental, vielfarben, aus dunklem Hintergrund herausragend, im Profil geformt von einer Konzentration caravaggio-haften Lichts. Sie liebkosten ihn,

— welch berückender Doppelsinn dieses “ihn”s, welch innige Identität des (eines doch nur kleinen, nun aber beinahe nahsten) Teiles mit Vans gesamtem Ich! (mit Adas d a aber eben auch …) —

sie hüllte ihn in ihr Haar: so umschlingt eine Ranke die Säule, sie fester und fester umklammernd, immer süßer in den Hals beißend,

nein, nicht das Kapitell ist gemeint! (schon gar nicht ionisch oder dorisch, allenfalls ein bißchen, bißchen korinthisch) —

dann die Kraft in tiefer roter Weichheit auflösend. Da war aus einem Weinblatt ein Halbmond von einer Schwärmer-Larve herausgebissen worden. Da war ein bekanner Lepidopterologe, der, da sein Vorrat an lateinischen und griechischen Namen sich erschöpft hatte, eine Nomenklatur wie Marikysme, Ada[!, (ANH]kysme, Ohkysme erfand. Tat sie. Wessen Pinsel war es nun? Ein kitzliger Tizian? Ein betrunkener Palma Vecchio? Nein, sie war alles andere als eine venezanische Blondine. Dosso Dossi vielleicht? Faun, erschöpft von Nymphe? Benommener Sartyr? Tut der neugefüllte Backenzahn nicht deiner eigenen Zunge weh? Mich hat er zerquetscht. Ich mache Spaß, meine Zirkus-Tscherkessin.

(Van spricht als alter Mann die Geliebte immer wieder an, und sie, bisweilen, schreibt Kommentare an den Rand das Manuskripts. Das sie also liest. Nicht uns wird diese Geschichte erzählt, die dadurch an Intimität noch gewinnt.)

Einen Augenblick später waren die Holländer am Zug: Mädchen, in ein Becken unter dem kleinen Wasserfall steigend, um ihre Haarflechten zu waschen, und sie begleitete die unvordenkliche Geste des Haarauswringens

Hier nun wagt er wirklich was, und unvordenklich gelingt es:

mit einem Auswringe-Mund — auch unvordenklich.
S. 174 – 175, dtsch. v. Marianne Therstappen und Uwe Friesel)

Schönheit, die durch die schließlich schärfste Konkretion nicht mal in die Nähe des Kitsches gerät. Davor beug ich stolz das Knie.

 

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Nabokov lesen 41

Nabokov lesen, 39

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P.S.:
Aber Sie müssen sich nun, liebste Freundin, vor Augen halten, daß solch eine Dichtung in unserer “woken” Zeit schwerlich einen Verlag fände, der Muts genug ist, schon der zu erwartenden Shitsstorms halber. Im Gegenteil ist zu befürchten, daß in absehbarer Zeit auch Nabokovs Kunst “gesäubert” werden wird. Wogegen es sich alleine mit einem Beharren wehren läßt, für die eigene Arbeit von Nabokov zu lernen — und anzuwenden, was gelernt ward.

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