Und auch mit d i e s e m Satz hat sie recht: Elena Kostioukovitch zu Putins Hirn in LETTRE INTERNATIONAL 137

Von einem ähnlichen Ansatz war auch Fjodor Dostojewski fasziniert,
wie Kenner der Geschichte der rüssischen Rechten wissen,
man denke nur an seinen Nationalismus und seinen Hang zur Suche nach Hintergründen,
an seine Enthüllung einer grandiosen katholischen Verschwörung,
zum Beispiel in der Parabel vom Großinquisitor.
Aber Dostojewski war ein grandioser Schriftsteller, und Putin ist etwas ganz anderes.

Lettre 137, S. 19

[Arbeitswohnung, 9.32 Uhr]

Der Schriftsteller m u ß sich in seine Vorstellungs-, resp. Fiktionswelten hineinbegeben, und zwar, um sie voll zu erfassen, also de facto in ihnen zu sein, ohne Ironie — nur dann kann er ihre sowohl schöpferische als auch die, auf ihrer anderen Seite, katastophal-destruktive Valenz für die politische und kulturelle Wirklichkeit erfassen, das, was ich “Realitätskraft der Fiktionen” nenne; kurz es d a r f kein Spiel für ihn, sondern n a h muß er der Fabel, muß sie quasi selbst sein. Aber für den Politiker, gar in führender Position, darf es g a r nicht sein, weil der furchtbar nahe liegende Wahn bei ihm nicht mehr persönlich wäre (und in Putins Fall längst ist), sondern Tausende andere Menschen mit in den Abgrund reißt, wenn nicht sogar, im schlimmsten Fall, Millionen. Der Schriftsteller erschafft ein möglicherweise System der Paranoia, die genau es ist, was die bildhafte Unausweichlichkeit und auch die Schönheit der großen Romane zumindest mitbewirkt; ein Politiker hingegen erschaffte mit ihr nichts als das Grauen, wiedererschafft es, läßt es auferstehen. Die Fiktion des Schriftstellers ist neben der erzählten Geschichte, also der fiktiv erzählten “Welt” immer auch ein Instrumentarium der Interpretationen von Welt, nämlich der realen —

und wie erschrak ich also, als ich vorhin Kostioukovitchs Conclusio las!



Als hätte sie heraus aus meiner Pentalogie gesprochen. Denn in der Tat, auf jeden Fall in die Andersweltromane hätte Putin gut gepaßt[1]statt dessen gibt es – seine “westliche” Variante – Ungefugger sowie die Schänder im Osten und – wie in unsrer Realität – den IS (داعش), hätten’s er und seine Vasallen. Es geschieht nicht, was ist, und bestimmt es, sondern das, was geglaubt  wird. Und uns glauben gemacht.
Um uns mit Leuten wie Putin überhaupt verständigen zu können, brauchen auch wir einen Glauben[2]der allerdings mit unseren “Werten” gedeckt sein sollte, zu denen ebenso persönliche Freiheit (Individualität und Diversität), Mitleid und Solidarität gehören wie Gleichheit vor dem … Continue reading, also eine ihm gemäße Sprache, die nicht eine der puren Rationalität ist; aber wir brauchen sie, um der Entfremdung zu entgehen, auch für uns selbst — und müssen zugleich doch immer wissen, daß dieser Glaube Konstruktion und also ein bedingter ist. In der abendländischen Kultur kann dies alleine die Kunst zwar nicht garantieren, aber möglich werden lassen. Denn nicht das Rationale fußt auf Seele, die selbst etwas Geglaubtes ist [3]und sich möglicherweise eines Tages als ein errechenbares Modul aus Hirnstrom, Chemie und Kombinatorik decouvriert, sondern das menschliche Selbstverständnis, das es ablehnt, nichts als ein Roboter zu sein. Den enthnozentrischen Nationalmythen müssen andere Mythen be- und entgegnen, solche, die ein nicht-identitäres, doch ganzheitliches Aufgehobensein der Einzelnen imaginieren[4]— in die Kladde gesprochen: fluide Zugehörigkeit.

ANH,
der Peter H. E. Gogolin für Hinweis auf und Herreichung des Artikels sehr dankt

[Poetologie
Krieg | Ukraine]

***

References

References
1 statt dessen gibt es – seine “westliche” Variante – Ungefugger sowie die Schänder im Osten und – wie in unsrer Realität – den IS (داعش)
2 der allerdings mit unseren “Werten” gedeckt sein sollte, zu denen ebenso persönliche Freiheit (Individualität und Diversität), Mitleid und Solidarität gehören wie Gleichheit vor dem Gesetz und ökologische Verantwortung
3 und sich möglicherweise eines Tages als ein errechenbares Modul aus Hirnstrom, Chemie und Kombinatorik decouvriert
4 — in die Kladde gesprochen: fluide Zugehörigkeit

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .