A u c h ein Siebenschläfer: — im kreativen Leerraum. Das Arbeitsjournal des Dienstags, den 27. Juni 2023. Darinnen zum Begriff des “Volk”es.

[Arbeitswohnung, 9.05 Uhr
Elgar, Violinkonzert]

Die Bäume der Nationalgeschichte wachsen dicht
und verstellen den Blick in die Weite, der für
die kritische Überprüfung der herrschenden “Me-
taerzählung” notwendig wäre.
Shlomo Sand

           Schon eigenartig, ich kriege kaum was zustande in diesem allerdings lektüregefüllten Schwebezustand. Freilich ist jede Schwerelosigkeit der drückenden Gravitation vorzuziehen, die Verlust und Trauer mir auf die Schultern legten und um den Nacken als ein Joch, aus dem sich’s nicht mehr schlüpfen ließe. So kann ich nur, und muß es, abwarten, bis mein zur Zeit in seinen zivilisations- weil auch netzfernen Piemonter Bergstätten weilender Arco-Verleger endlich die Briefe nach Triest ganz gelesen und mir seine etwaigen Einwände, bzw. Änderungsvorschläge unterbreitet haben wird. Unmöglich für mich, vorher mit der letzten Überarbeitung zu beginnen; unmöglich aber eben auch, etwas Neues anzufangen (wenngleich ich Ideen wirklich genug hab). Denn wenn mir seine Ansicht vorliegt, sowie sie mir vorliegt, werde ich mich in die Arbeit s t ü r z e n — ganz, wie ich es in den ersten dreivier Monaten dieses Jahres getan. Immerhin ist’s mir mein seit dem Traumschiff wichtigster Roman, fast ein, so empfinde ich, Vermächtnis. Allerdings hatte ich dieses Gefühl auch bei Meere schon: “Nur dieses, wenigstens dies noch!” — Zwanzig Jahre, meine Güte!

          Verlust und Trauer, und Enttäuschung — Trennung, ja: Ich weiß um ihre Maßlosigkeit, aber spüre sie nicht: sowohl meiner Trauer wie des Verlusts. Statt dessen dieses kreative Vakuum: schwere, schwere Schwerelosigkeit. Die Wunder der Triestbriefe: Wunden. Als hätte das Gehirn Sedativa ausgeschüttet, die allerdings nicht meine Aufnahmefähigkeiten schmälern, nur das, was in die Welt hinausgelangt. Lesend bin ich konzentriert, hingegen schreibend (schöpfend) zähe bis zur Unwillentlichkeit, doch weiß, sowie ich wieder an den Roman kann, wird es sich schlagartig ändern.
Und die Lektüren jetzt s i n d ja auch wichtig, nicht nur die Kinder- und Jugenderinnerungsarbeiten, Ivanhoe, sondern die Gedichte Ulrike Schrimpfs zum Beispiel auch,

(…)
[/ – / – / – / – -] mit spuren

von kupfer belegt eines leicht zu
verwechselnden storchenbisses lass
mich je te prends lass mich nicht
de travers lass mich nicht allein
schlägt ein gestell von schaukeln
krächzarten in die luft mit jeder

deiner bewegungen hat das kind
federn geschnitten und monde von
fingern verstrahlen seine geige die
sich nicht mehr bewegt die kastanien
in hosentaschen vergraben und alle
formeln einer beschwörung
si tu m’avais dit / fortbestehen[1]Übrigens finde ich dieses sehr edel gemachte Buch mit 22 @ deutlich → unterteuert.,

die nicht alle gleichgut sind, aber nicht wenige sind beklemmend großartig oder selbst formal in ihrer oft so still trauernden Zärtlichkeit perfekt (ich werd’s an späterer Stelle rezensierend belegen), sondern auch WiederFunde, etwa Shlomo Sands Die Erfindung des jüdischen Volkes, das mir vor Jahren Bernd Leukert geliehen und ich wohl deshalb nie zurückgegeben habe – was ich selbstverständlich nachholen werde –, weil ich wußte, es k ä m e für dieses Buch erst die Zeit. Nun ist sie da. Denn heute begreife ich, weshalb ich es geliehen bekam, war doch schon vor Jahren gegen den Begriff des Volkes angelaufen, weil es insgesamt kein Volk mehr geben kann — abgesehen von wenigen quasi endemischen, weil komplett abgeschiedenen sehr kleinen Ethnien, schon aber gar nicht eines, das sich religiös definiert. So gesehen, hat die juristische Formel “Im Namen des Volkes” einen furchterregenden Anteil am kulturellen Verblendungszusammenhang. Es gibt Bevölkerung, ja, gibt Staatsbürgerschaft und die (Wähler)Gemeinschaft der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, aber eben schon lange kein Volk mehr, nicht ein deutsches, kein französisches, weder ein US-amerikanisches noch ein russisches. Der Volksbegriff ist völkisch. Deshalb können wir auch nicht wirklich ein obendrein noch “Vater”land lieben, nicht einmal eine Nation, auch wenn wir uns ihr zugehörig wissen; sehr wohl lieben können wir aber Landschaften, mit denen wie uns verbunden fühlen oder es objektiv auch sind — weil sie uns geprägt haben oder weil wir sie als Sehnsuchts- und Sehnsuchtserfüllungsorte empfinden und erleben; nur daß letztres nicht notwendigerweise und wahrscheinlich sogar höchst selten mit der Nation identisch ist, der wir administrativ zugehören. Dies aber erstmal nur “nebenbei”; der Komplex ist einen eigenen Essay wert – oder eben ein ganzes Buch wie Sands. (Übrigens können auch Städte solche Landschaften sein, etwa, wie für mich, Berlin und Neapel.)

Also die Lektüren und — immerhin! Endlich Antwort auf meine neue Hochzeitsrede:

Was hatte ich mir für Sorgen gemacht! Die Änderungen jetzt waren schnell eingearbeitet, tatsächlich sehr wenige; zweimal hatte ich Namen verwechselt, einmal ein Datum nicht korrekt genannt. Und ein kleiner, von mir ohnedies recht übermütig hineingeschriebener Schlenker wurde gestrichen, in der es um das Schicksal ging, das bei mit als sich die Brust betrommelnder Silberrücken in den Text wie Obelix in seinerzeit den Swimmingpool sprang.
War tatsächlich, sagen wir, albern. Jetzt trommelt der Gorilla eben hier:

 

 

 

 

 

 

[Schostakowitsch, Fünfzehnte Sinfonie (meine von ihm liebste)]

           Kreatives Vakuum: Ja, es spielt selbstverständlich auch eine Rolle, daß seit den → Erzählungen – außer von Carsten Otte eigentlich kein Buch von mir mehr öffentlich rezensiert worden ist, schon gar nicht in einem maßgeblichen Feuilleton. Aber was i s t schon “maßgeblich”? Dennoch, eine penetrant narzisstische Kränkung, die mich meinen Arco-Verleger um seine Eremitage ein wenig beneiden und vor allem an Gerd-Peter Eigners Rückzugsort Olevano denken läßt. Fernab des Literaturbetriebs lassen sich er, also dieser Betrieb, und seine Ignoranz ganz einfach vergessen — wonach mir unterdessen immer mehr ist. Wen  ich ihm egal bin, weshalb soll er dann mir etwas geten? Noch “anzurennen” gegen ihn ist doch völlig sinnlos, und jetzt erst recht, nach meinem schweren, siehe oben, Verlust. Der eben auch ein literarischer, nicht “nur” persönlicher ist. So gesehen ist die Gebärde des Silberrückens selbstverständich die Vortäuschung einer falschen Tatsache. Doch wie Sie sehen, liebste Freundin, behalte ich meinen wenn auch zerknirschten Humor.

 

Ihr ANH, 12.11 Uhr
[Elgar, Caractacus]


 

References

References
1 Übrigens finde ich dieses sehr edel gemachte Buch mit 22 @ deutlich → unterteuert.

5 thoughts on “A u c h ein Siebenschläfer: — im kreativen Leerraum. Das Arbeitsjournal des Dienstags, den 27. Juni 2023. Darinnen zum Begriff des “Volk”es.

  1. Die Bach-Variationen op. 81 von Max Reger könnten Ihnen gefallen. Reger schrieb seine Meisterwerke immer im Sommer.
    Besten Dank für Ihre Arbeit!
    Franz Schloder

    1. Sie haben recht, Herr Schloder, und ich danke sehr für Ihren Hinweis. Tatsächlich kannte ich das Stück noch nicht (was gewiß an meiner Prägung durch Ernst Bloch liegt, der Reger bekanntlich, anders läßt es sich kaum sagen, verabscheut hat; zwar habe ich sein, Blochs, Urteil nicht übernommen, aber es war und blieb doch immer ein Hemmnis, auch wenn ich etwa Regers Cello-Solosuiten durchaus mochte und mag).

  2. Lieber Herr Herbst, ich habe Blochs Urteil soeben gelesen und möchte alles zu einem späteren Zeitpunkt wiederlegen (das wird ein etwas längerer Text). Mit Regers Solosuiten für Cello (gibt es auch für Violine und, besonders intim, für Bratsche) haben Sie eigentlich ein sehr gutes Beispiel genannt, welches zumindest eine Behauptung Blochs wiederlegt, Reger wäre nur “leeres, gefährliches Können”.
    Reger schreibt hier einstimmig (bzw. pseudomehrstimmig) und diese Werke haben die gleiche Klangpracht und unverwechselbare Klangsprache Regers, wie die großen Orchesterwerke.
    Hätte Richard Strauss eine Suite für Cello solo geschrieben, würde sie nach Strauss klingen, wäre sie prächtig wie die Alpensinfonie? Ich glaube nicht, dafür war SEIN Können zu leer.
    “Ariadne auf Naxos” liebe ich trotzdem!
    Viele Grüße nach Berlin,
    Franz Schloder

    1. Oh, die Bratschenfassung interessiert mich s e h r. Und auch Ihr Text, wenn er denn erschienen sein wird. Haben Sie dafür einen Publikationsort?

      Daß allerdings Straussens Können “leer” sei, mag und werde ich nicht unterschreiben, sondern tendiere sehr zu Glenn Goulds Meinung – auch wenn mir Strauss “persönlich” ganz sicher nicht angenehm gewesen wäre; das sind mir aber viele Autorinnen und Autoren auch nicht, deren Werk ich bewundre. Ich scheide ziemlich strikt zwischen dem, sagen wir, “Charakter” der Urheberinnen und Urheber und ihrer Kunst, auch wenn beides selbstverständlich wechselseitig ineinanderwirkt. Einige Beispiele habe ich dafür in meinen bisherigen → Ada-Besprechungen gegeben – neben vielen anderen Einlassungen, die nicht Nabokov galten.

      1. Da habe ich mich etwas missvertändlich ausgedrückt, es existieren von den Suiten für Cello keine anderen Fassungen, sondern es handelt sich um Originalwerke für das jeweilige Instrument.
        Für Bratsche wären das die drei Suiten op. 135d und ich empfehle die Einspielung von Ernst Wallfisch. Die LP ist sogar noch bei Amazon erhältlich.

        Strauss Können ist nicht leer, das war etwas provokant von mir. Die vier letzten Lieder und die Metamorphosen versöhnen mich sogar mit seinem Spätwerk.
        Trotzdem habe ich bei Strauss oft das Gefühl, er stünde da und sagt ‘seht her was ich kann’;
        bei Reger hingegen, ‘seht her ich kann nicht anders’.

        Ich werde mich an einem kleinen Essay über Bloch und Reger versuchen und sollte mir die Ehre zu Teil werden, es hier veröffentlicht zu sehen, würde es mich sehr freuen.

        Allerdings wird es mir einiges abverlangen. Zwei Dinge seien hier erwähnt: als Niederbayer bin ich der deutschen Schriftsprache nur halbwegs mächtig und ich muss mich mit Bloch beschäftigen.

        Viele Grüße nach Berlin!

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