Prigoschins “Putsch”: Auch Long John Silver kam davon.

[Arbeitswohnung, 8.50 Uhr]
Die Parallelen, die ich → gestern noch als frappierende Ähnlichkeit der Physiognomien beschrieb (und bildlich belegte), werden bizarr. Denn ja, auch Silver, der perfide Anführer der Meuterei, kam nicht nur heiler Haut davon (Lars Björnsson hat ihn seine Geschichte selbst → weitererzählen lassen), sondern mit einem Säckel einigen Goldes:

Ben Gunn was on deck alone, and, as soon as we came on board, he began, with wonderful contortions, to make a confession. Silver was gone. The maroon[1]Zu Stevensons historischer Verwendung dieses vom spanischen cimarrón abgeleiteten Wortes siehe → Wikipedia. had connived at his escape in a shore boat some hours ago, and he now assured us he had only done so to preserve our lives, which could certainly have been forfeit if ‘the man with the one leg had stayed aboard’. But this was not all. The sea cook had not gone empty-handed. He had cut through a bulk-head unobserved, and had renoved one of the sacks of coin, worth, perhaps, three or four hundred guineas, to help him on his further wanderings. (…)
Of Silver we have heard no more. The formidabele seafaring man with ohne leg has at last gone clean out of my life; but I daresay he met his old Negress, and perhaps still lives in comfort with her and Captain Flint. It is to be hiped so, I suppose, for his chances of comfort in another world are very small.
Stevenson, Treasury Island

Dies die historisch-literarische Seite der Geschichte[2]die deutlich zeigt, wie weit etwas, das für ein Jugendbuch gehalten wird, in Wahrheit reichen kann.

Was aber, wenn der kleine Putschversuch ein mit Putins Wissen oder ohne geplanter Fake war, also bewußt von oben inszeniert? Ohne Putins Wissen: von wem und von wem nicht? Und wem jeweils – und wofür – hätte er gedient? Es stellt sich eben auch hier die niemals zu umgehende Frage, wem etwas etwas nutzt, und was. Gerade, daß der angeblich derart schwache Vasall Lukaschenko jetzt →  als, sagen wir, Mediator gedient habe, läßt schon der offiziellen Begründung halber aufhorchen, er, Lukaschenko, sei dazu wegen seiner “persönlichen Beziehungen” zu Prigoschin in der Lage gewesen. Denn wäre er tatsächlich der machtlose Vasall, als den unser Westen ihn darstellt, hätte er als Strohmann Putins gehandelt; hat er dies n i c h t als ein solcher, dann ist er n i c h t nur Vasall — was einen komplett anderen Blick auf diesen ganzen Krieg werfen ließe, ihn sogar, den geänderten Blick, unbedingt erforderte.

Mit 25000 Söldnern auf Moskau zuzumarschieren, kann de facto keine Erfolgsaussichten gehabt haben, es sei denn, es hätte sich das Militär hinter John Silver … ähm, Prigoschin gestellt, dessen Führung er allerdings zunehmend rüde kritisiert hat. Entweder also dann, er wäre von Unzufriedenheit innerhalb der Armee ausgegangen, die eine ganz Welle hochrangiger Überläufer auf seine Seite gebracht hätte, oder es war ein Angriff auf Moskau zu keinem Zeitpunkt vorgesehen, sondern er wurde als Desinformationsakt gespielt. Wovon, dies angenommen, sollte abgelenkt, bzw. was im Unsichtbaren durchgeführt werden? Was w u r d e vielleicht durchgeführt?

Sowie Nils Markwarts, in der ZEIT, → Vergleich mit Wallenstein wäre schlagend, wäre dieser, Wallenstein, nicht eben ein Zauderer geblieben, der sich n i c h t erhob, wenn auch im Hintergund intrigierte. Anders freilich, würde nicht, wie Markwart tut, des Humanisten Friedrich Schiller Wallenstein herangezogen, sondern Alfred Döblins:

Sie nahmen dann ohne weiteres an, was Wallenstein in dem überbrachten Schreiben forderte, das Ungeheuerlichste, was ein Mensch von einem Kaiser des Heiligen Reiches verlangen konnte, ohne ihn zu töten: absolutes Generalat, Bestallung als Generalissimus des Hauses Östereich und Spanien, Konfiskationsrecht im Reich ohne Einspruch des Hofrats, der Hofkammer und des Kammergerichts, Versicherung auf die Erblande als Rekompensation, Lieferung aller begehrten Unkosten; die Erblande stehen ihm zum Rückzug beliebig offen, er muß in die Friedensverhandlungen eingeschlossen werden. Dies unterschrieben die beiden Unterhändler, nachdem sie es gelesen hatten, im Namen des Kaisers, von dem sie Blankovollmacht hatten. Waren dabei von einer wütenden Lust erfüllt: sie hatten ihn entlarvt, nun sah man, woran man war. Hier verhandelte kein Feldherr wegen seiner Anstellung, sondern ein Tyrann, der seine Rachsucht befriedigen wollte.
Döblin, Wallenstein, Büchergilde Gutenberg Jubiläumsausgabe, S. 576/577, Frankfurt am Main/Wien/Zürich 1978

Und also, Walter Muschgs Quintessenz im Nachwort:

In Döblins Augen ist die Geschichte kein vernünftiger Prozeß, sondern ein [— Long John Silver! (ANH) —] ozeanisches Geschehen, das wie das Naturgeschehen den Horizont des Menschen übersteigt und kaum vorgestellt, geschweige denn erklärt werden kann. Der Lärm der frühen Jahrhunderte, die Verbrechen der Mächtigen, die Leiden der von ihnen Mißhandelten und Zertretenen — dieser ganze Augiasstall der Zeit, den man Geschichte nennt, wird von ihm in den Ereignissen von der Vertreibung des Winterkönigs aus Böhmen bis zur Ermordung Wallensteins und zum Tod Kaiser Ferdinands herausbeschworen. Die Hauptakteure des schmutzigen Spiels treten plastisch heraus, verschwinden aber immer wieder in den trübe Fluten, und was sie tun und denken, bleibt nicht nur dem Leser, sondern ihnen selbst und ihren Gegenspielern vielfach undurchsichtig.
Ebda., S. 745/746

Kaum etwas sonst beschreibt so sehr unsere, der heutigen Zeitzeugen, Hilflosigkeit gegenüber nicht den, sondem dem trüben Fluten der Geschichte. Wie trüb auch immer, wir sind mitgeflutet und werden weiter überströmt.

ANH

 

References

References
1 Zu Stevensons historischer Verwendung dieses vom spanischen cimarrón abgeleiteten Wortes siehe → Wikipedia.
2 die deutlich zeigt, wie weit etwas, das für ein Jugendbuch gehalten wird, in Wahrheit reichen kann

3 thoughts on “Prigoschins “Putsch”: Auch Long John Silver kam davon.

  1. Lach, an Fake hatte ich auch sofort gedacht, das sind schon echte Schauspieler, Hatte John Silver nicht ein Holzbein? Dagegen sieht aber Prigoshin ganz gesund beieinander aus. Genau genommen liebt er doch den Putin, “und wer nicht hassen kann, kann auch ncht lieben” sagen die Russen. Wenn es echt gewesen wäre, hätte jeder Scharfschütze diesen Mann erledigt, wie er da so ungeschützt in den Straßen herum lungerte 🙂

    1. Ja, hatte er, ein Holzbein, wenn auch nur, praktischerweise, in Filmen. Manchmal wird’s eben noch. Wobei es auch den Papagei noch nicht gibt, jedenfalls zu geben scheint, der mit der artgerecht verkrächzten Stimme Captain Flints ruft: “Pieces of eight! Pieces of eight!”

  2. Aber was tut man, wenn einen plötzlich → AfD-Typen teilen? Nun jà, wahrscheinlich grinsen Sie: Die fallen auf jeden Verschwörungsschein herein. Und Ihr kleines, hier nun allein von der Poetik besatzte Einmann-UBoot treibt vor Belabeccarus mitten in die Gegnerschaft – anstelle daß sie abdreht. Wobei Sie damals selbst wären Gegnerschaft gewesen: Honi soit qui mal y pense.

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