Der Rauch des Sciroccos. Horcynus Orca (7), Sätze VI (Passagen).

 

Der Schirokko ist kein Wind von zuverlässigem Charakter, kein Wind mit dem immer gleichen und einem immer klaren Gesicht, er ist nicht wie der Gräkal aus Nordost, den sogar ein Kind am Ende ablesen kann. Der Schirokko ist ein afrikanischer Wind, auf den man nicht im Geringsten vertrauen kann, denn der Name ist zwar einer, doch seine Arten sind viele. Für den Schirokko braucht man einen Seher, um sagen zu können, wie und woher er einen packt, ob einer heranweht oder eine ganze Herde, ob er kommt, um dich zu glätten wie einen Säugling oder um dir das Gesicht zu zerkratzen und dich mit seinen Sandkörnern erblinden zu lassen, und ob er sich auf das windstille Meer wirft oder alles aufbläht. Und wenn du’s dann merkst, hat er seinen Platz schon eingenommen, weil er unmerklich gekommen ist, er ist ein starrer, unbeugsamer Wind, vaselinegeschmiert, der in den Undsoweiter dringt, und dann erst spürst du, dass er da ist … Deshalb braucht man den Seher, braucht man Alte, die achtzigjährige Runzeln haben, enge, tiefe Falten als verborgene Winkel des Gedächtnisses, weshalb sie imstande sind, ihn magnetisch anzuziehen und den Saft aus ihm zu pressen, blond und dunkel: denn die alten Pellisquadre, diese Mumien, die den ganzen Tag vor dem Meer sitzen, sehnen sich nach dem Schirokko wie nach starkem Rauchtabak, sie können gar nicht mehr ohne dieses Gift auskommen, das sie zuerst belebt und wohl auch um mindestens zehn bis zwanzig Jahre verjüngt, dann aber toter zurückläßt als zuvor.

 

Doch um bis auf den Grund sicherzugehen, wie der Schirokko beschaffen war, der sich näherte, brauchte man nur zu sehen, wie Don Ferdinando sich am folgenden Morgen verhielt, als er an der Marina saß. Er beschnupperte den Schirokko, als wäre es Schnupftabak, und die Nase wurde für ihn zum Saugnapf, der so schnell aufsog, dass man meinte, er würde im Handumdrehen aus einer Bewusstlosigkeit wieder zu sich kommen. Dieser gigantische Mensch wurde bei den Luftzügen des Schirokkos ganz munter, er belebte sich und trübte sich in seinen Augen, wie ein Fels, der in der Brandung mal glänzt und mal dunkel erscheint. Es gab Augenblicke, da wollte man sich vor ihn stellen und ihn anschauen, wenn Schirokko und Schwertfisch in die zweite Reihe abgedrängt wurden angesichts dieses vom Salz zerfressenen Kolosses, der vom Schirokko einen Träufel Erinnerung erbettelte, einen Tropfen seiner berühmten Jugend. Zwangsläufig stellte sich im Kopf der Vergleich mit dem oberlippenbärtigen Herkules von damals ein, der um die vierzig war und am achtundzwanzigsten Dezember gegen die berghohen Schaumrösser ankämpfte, die dröhnend und donnernd auf ihn herunterstürzten, um ihm die Kinder zu entreißen, die er jeweils zu viert rettete, ganze Arme voll, fest an seinem Hals, seinen Armen, seinen Beinen geklammert, so viele völlig durchnässte Spatzen, die er auf die Äste von Zitronen- und Olivenbäumen der Pflanzstücke von Spartà gesetzt hatte, wo sie sich sicher fühlen konnten: So viele, dass, wenn man alle Jungs, die er damals gerettet hatte, einzeln zählte und die man heute als Pellisquadre und Familienväter wiederfand, man wirklich sagen konnte, Don Ferdinando Currò habe den charybdotischen Menschenschlag gerettet. Das Seebeben stieß sich die Hörner an ihm ab. Das Meer bäumte sich bis zur Rocca von Skylla auf, und gelegentlich sprengte das wahnsinnige Schaumross bis hinauf zum Aspromonte und warf dort oben große Massen silbriger Lava aus, die ganze Bänke von Cicirella aus den Abgründen waren, und dann stürzte es mit erschreckender Wucht über Ufer und Höhen und ertränkte ganze Dörfer und Ortschaften: Ferdinando verschwand jedes Mal vor den Augen, doch jedes Mal wich das stürmische Schaumross wütend von den Füßen dieses verzauberten Riesen zurück wie vor dem Stamm eines unerschütterlichen Baums, dessen Äste voller engumschlungener und fest aneinandergeklammerter Kinder waren, die dort Rettung gefunden hatten. Und jetzt saß er da, dieser Herkules, da, auf dem Stuhl, und ihm lief der Sabber für einen Hauch Schirokko, vor dem wirren Ross des Alters konnte selbst einer wie er nichts ausrichten.

Stefano D’Arrigo. Horcynus Orca, Roman (Seite 620/622: S. Fischer Verlag Frankfurt am Main, dtsch. von Moshe Kahn | Kindle-Positionen 11382- 11411)
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