Arbeitsjournal. Sonntag, der 26. Oktober 2008.

5.11 Uhr:
[Am Terrarium.]
Seit ein Viertel vor fünf Uhr auf, ich dachte aber, es sei bereits ein Viertel vor sechs; so hatte ich in Erinnerung, daß ich den Wecker gestellt hätte; den Irrtum merkte ich eben, als ich mich an den Laptop setzte. Da der Kaffee schmeckt, ist es mir recht so. ** ist durch die Nacht und Clubs tanzen gezogen, mir ward der Babydienst, da auch der „Große“ wieder unterwegs ist; diesmal schläft er bei einem Freund. Es läßt sich mitverfolgen, wie Ablösung begibt, vorsichtig, im ganz Kleinen, aber doch entschieden. Selbstbewußtsein, Selbstwille. Wenn ich die beiden Kleinen betrachte, dann ist an dem Prozeß auch ein bißchen was Schmerzliches, zugleich macht er väterlich stolz. Leben fließt. Ich trage wieder einen der weiten breiten Schals über dem Kopf, wie Haar hängt er beidseits meines Gesichtes hinunter und liegt schmeichelig im Nacken auf. Balkon, Zigarette, Nacht. Wobei mir die Raucherei schon wieder auf die Nerven zu gehen beginnt, weil sie so stinkt; nicht daß sie’s in der Situation tut, sondern nachher noch immer, in den Klamotten, dann der Nachgeschmack auf der Zunge, lange wird das so n i c h t mehr gehen.
Nachts gestern, bevor ich >>>> Platoon im Fernsehen sah (ich kannte den Film noch nicht; er zeigt Hilflosigkeit, er zeigt die bekannten Klischees, er zeigt Grauen, er findet aber keine künstlerische Überhöhung wie Apokalypse now, den ich vorziehe, weil er ein Geheimnis miterzählt; ich ziehe ihn des Geheimnisses wegen vor, weil ich nicht daran glaube, daß es irgend einen Kriegsfilm gibt, der tatsächlich Antikriegsfilm wäre; j e d e r Film, wie jeder Roman, der fesselt, wird in der einen undoder anderen Weise dramatisch benutzen, benutzen m ü s s e n, das Grauen wird zum Mittel des Spannungsaufbaus, aus dieser Kehre gibt es kein Entkommen; der „wirkliche“ Antikriegsfilm wäre so, daß er kein Publikum hätte, weil ihn keiner ertrüge: nicht seine Langeweile, nicht seine Angst, nicht seinen Gestank, nicht seinen Schmerz) – nachts gestern fand ich dann noch, daß ich >>>> Dielmanns letzte Gedichtsendung von vorgestern abend tatsächlich schon eingebaut hatte und gewissermaßen „fertig“geworden war, ohne das recht zu registrieren; jetzt fehlen nur noch wenige Gedichte, d.h. Vorschlag und Bestimmung des Platzes, an dem sie stehen werden, bzw. nach Dielmanns Meinung sollen. Zweidrei Texte nahm er heraus, einen davon mag ich sehr, Dielmann argumentiert aber klug: „»Die inneren Werte« vielleicht hinters Titelgedicht? – Ich bin sehr unsicher, ob es nicht rauslassen, weil es zu sehr Programm machen will, während ein Programm eher vom Ganzen dieser Gedichte ausgerufen wird …“ Das sehe ich ähnlich. Also folge ich.
Ich gehe gerade alle Gedichte noch einmal durch. Dazu werde ich heute morgen mit der kleinen Fiktion beginnen, für die ich aber noch keine Idee habe, nur, wo sie spielen soll, weiß ich.

>>>> Hier droht eine Grundfrage, weil sie eine sowohl der Praktikabilität wie der Freiheitsgrade ist; sie hat tragödische Dimension, auch wenn das nicht sofort sichtbar ist. Es ist spürbar. Kleist, im Prinzen von Homburg, hat sie bereits gestaltet – aber am Ende dieses Stücks, anders als in Penthesilea, auf nahezu goethesche Weise harmonisiert. Dieses Ende ist gewissermaßen katholisch; Militär muß aber protestantisch sein: ora et militare. Ansonsten zerfällt die Taktik in Einzelmassaker. Insofern hat es den Protestantismus und seine Derivate schon lange vor dem Katholizismus, ja lange vor JHW s e l b s t gegeben. Dies ist mein Wort zum Sonntag. (Als sehr junger Mann hätte ich wie >>>> herstätter argumentiert, d.h. sehr viel weniger logisch und kühl als heute, sondern mit Emotionen; die Emotion selbst als Argument. Heute bin ich vorsichtiger. Ich kann das Militär ablehnen, muß aber zugleich seine Notwendigkeit einsehen, die Notwendigkeit von Kampfverbänden, gerade in einer Zeit, in der feindliche Angriffe zu erwarten sind; dann muß ich, der Gegen-Schlagkraft wegen, die Befehlskette akzeptieren, die ich aber mit harten Gründen nicht akzeptieren k a n n, so daß ich in einen inneren Gedankenkonflikt gerate, der abermals auf das hinzuzählt, was ich “tragische Verfaßtheit” nenne; die häßliche Substantivierung paßt hier – vielleicht mehr dazu später, in mir schießen (!!) grad die Gedanken auf und nieder. Und A. hat mich belehrt, gestern nacht, gut belehrt; sie weiß es nicht, glaube ich, aber sie hat etwas Schwarzpulver in meine Aufmerksamkeit gestreut, damit sich nicht vor der Zeit schließt, was erst noch heilen soll: Heilung als Bildung. Wir telefonierten einige Zeit. Das gehört in den gleichen Zusammenhang.)

Cello übte ich gestern abend bis neun. Dann knallte man wütend und polterte, schlug, ja trat randalend auf den Boden, der mir Zimmerdecke ist. Ich bin nicht so schnell einzuschüchtern, aber d a fuhr ich zusammen und traute mich nicht mehr weiterzuüben, obwohl ich bis 22 Uhr gedurft hätte. Ein wenig traurig stellte ich mein Instrument weg.
Gestreckte Lage: Riesenschwierigkeit, meinen Zeigefinger zu Gummi zu machen; ich übe jetzt an allem erdenklichen: am Balkongeländer, an Besenstielen, an der Stuhllehne… quasi an allem, das sich umgreifen läßt – und versteh jetzt auch, weshalb soviel Wert darauf gelegt wird, daß die Griffhand den Daumen immer unter den Mittelfinger legt.

6.41 Uhr:
Interessant, daß sich für >>>> Grunderfahrungen nach wie vor das Naturbild anbietet, aufdrängt, machtvoll, archetypisch; die Stadt vermag das offenbar noch nicht, nicht, je moderner (=cleaner) sie wird; Sanierung bleibt immer an der Oberfläche, s c h a f f t Oberfläche.

7.54 Uhr:
Abermals >>>> bin ich an das umstrittene Gedicht „Verwundung“ gegangen; das jetzt kommt der Lösung zumindest nahe. Ich hatte mich vorhin entschieden, daß das Gedicht unbedingt mit in DER ENGEL ORDNUNGEN hineinmuß – und genau dadurch war dann mit einem Mal die Lösung da. Überhaupt läuft die Arbeit extrem gut; gleich drei weitere Gedichte der Sammlung haben das zu spüren bekommen. Dabei wuseln die Kleinen hier aufgeregt herum, rufend, auch „Mama“ rufend, die eben durchtelefonierte, völlig müde von der durchtanzten Nacht; immerhin konnte sie mir erklären, weshalb ich heute d o c h so früh aufwar: es ist wieder Winderzeit.
Gutes gutes Gefühl, auch wenn ich auf zehn Uhr brenne; vorher werde ich, sonntagshalber, nicht an das Cello dürfen.

9.52 Uhr:
[>>>> Gulaam Ali, Chupke chupke raat din.]
Gefrühstückt. Und weiter mit den Texten, bevor es mit dem Cello losgeht.

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