Brennen, mehr b r e n n e n! Carl Loewes „Johann Huss“ in der Zionskirche zu Berlin am 28. Oktober 2012.

Das Liedschaffen Carl Loewes, eines der kompositorischen Meister des 19. Jahrhunderts, steht, man kann sich bemühen, wie man mag, immer im Schatten Franz Schuberts – was vor allem dann ungerecht bleibt, wenn man im Vergleich beider Balladen anhört; besonders Loewes Erlkönig-Vertonung von 1824, sein, nicht zu fassen, Opus 1, übertrifft in ihrem deklamatorischen Stil Schuberts Vertonung von 1815, die lyrischer ist, deutlich an Dramatik. Das gibt ihr etwas, von heutiger Hör-Erfahrung zurückgeschaut, ausgesprochen Modernes. Davon einiges hat auch der Johann Huss: einen extrem spürbaren Willen zum intensiven Ausdruck des musikalischen, kann man sagen, Plots. Nicht freilich in erster Linie der Melodik. So etwas bezahlt sich mit Quote. Doch fühlte ich‘s gestern, am Huss, auf der Haut, wie sehr Oratorien für die sakrale Musik eigentliche Opern sind oder daß sie es doch sein können – auch wenn seinerzeit eine „Veroperung“ sakraler Stoffe sicherlich als blasphemisch empfunden worden wäre. Eine kleine Ausnahme mögen die christlichen Hirten- und Erbauungsspiele nach Art von Vaughan Williams‘ „The Pilgrim‘s Progress“ sein – doch das entstand schon im 20. Jahrhundert, wenn auch deutlich der Spätromantik verpflichtet. Für den zu Loewes Zeiten noch vergessenen Johann Sebastian Bach, als dessen nicht Wieder- sondern Entdecker-überhaupt Carl Lowe, neben Mendelssohn, mitgilt, haben Simon Rattle und Peter Sellars meinen Eindruck >>>> nachdrücklich bebildert; ich werde nicht müde werden, auf diese Inszenierung hinzuweisen.
Auch im Huss gibt es eine Hirtenszene, das verbindet die ästhetischen, will hier sagen: Mainstream-Konzepte, zu denen deutlich politische Anspielungen in den damaligen Zusammenhängen der böhmischen Freiheitsbewegung gehören; interessant ist aber vor allem, daß der Huss nicht etwa eine Heilsgeschichte oder einen Ausschnitt aus ihr erzählt, sondern ein, recht eigentlich, Märtyrerschicksal und damit, einerseits, einen ganz anderen Kampf vorausspiegelt, nämlich den zwischen der katholischen Kirche und den sich aufklärenden Wissenschaften; Huss brennt 185 Jahre vor Giordano Bruno. Sondern mit dem Huss-Stoff als Oratorium kreiert die Musik den, sozusagen, ersten Heiligen der Reformation – was theologisch geschickt ist, aber schon deshalb nicht gelingen kann, weil so etwas mit der Bescheidungs-Verfaßtheit dieser religiösen Ausrichtung nicht ineins geht; es ist schlichtweg zu wenig „Heidentum“ in ihr. Loewes Textdichter hat das möglicherweise selbst gespürt: „Ich hoffe nicht, daß du den Johann Huss dem Welterlöser gleichzustellen wagst“, sagt König Siegmund, woraufhin seine Frau das – eben nicht beantwortet, sondern erdend zurückfragt: „War‘s nicht in beiden Fällen Priesterwut, die mit zwei falschen Zeugen sich verschworen?“ Man beachte das hier ziemlich raffinierte Imperfekt, das den Nazarener und Huss zugleich wieder in eins nimmt; der zweite Fall geschieht ja soeben erst, also zur Handlungszeit des Oratoriums; von einem „war“ kann die Rede nicht sein.
Wie der Prozeß ausging, wissen wir. Es war nicht Wahrheit, emphatische, Anlaß des Konzils, sondern sein politisches Ziel war die Wiedervereinigung der unter anderm durch Huss bedrohten gemeinsamen Umfassenheit – deshalb communio, Kommunion. Interessanterweise stellte gestern der Organist Winfried Müller-Brandes in einer kurzen Ansprache, die zwischen Mendelssohn Bartholdys den Spätnachmittag einleitender Choralkantate „Verleih uns Frieden“ und das Huss-Oratorium geschoben wurde, ausgerechnet den Begriff der Ökumene ins Finale seiner Art Predigt und griff damit letztlich auf das – eigentliche – Ziel des Konzils zurück: (wieder) den, eben, ganzen Erdkreis zu vereinen. Nichts anderes meint auch communio. „Und wenn auch einmal die Geister gegeneinander entflammen“, sagte Müller-Brandes, „aber die Herzen füreinander brennen, dann könnte Reformation sogar zur Ökumene führen.“ Man erinnere sich, um sich die theologische Tragweite dieses Satzes klarzumachen, daß der Scheiterhaufen-Mord an Giordano Bruno erst im Jahr 2000 vom Vatikan – doch nicht etwa als päpstliches Unrecht gestanden, sondern zum Unrecht erklärt wurde: von einer der nach wie vor mächtigsten politischen Organisationen der Welt. Dreißig Doktoren, hieß es am Ende des Konstanzer Konzils von 1414, hätten gegen Huss gesprochen; der „Beweis“ gegen ihn war eine Mehrheitsentscheidung. Insofern ist Loewes Huss auch eine Parteinahme für den eben nicht einer Communio – wir sagen heute „Community“ -, sondern der Wahrheit verpflichteten Existenz und damit Parteinahme für das, was einst Zivilcourage hieß. Der Einzelne, auch gegen die Guppe, trägt Verantwortung. Huss ist ermordet worden, weil er nicht korrumpierbar war. Daß gestern dieses Oratorium in einer Kirche aufgeführt wurde, in der 1932 Pastor Dietrich Bonhoffer, umgebracht im letzten Kriegjahr im Konzentrationslager Flossenburg, gepredigt hat, klammert die spätmittelalterliche Historie unmittelbar an unsere jüngste – und daß, aber, die Kirche nicht bis auf den letzten Platz gefüllt war, macht einen da ziemlich beklommen. Es sagt, auch, etwas über politische, bedenkliche, Kontinuitäten. Kein Star hat gesungen, noch gespielt und dirigiert. Kein Tribun, dem man hätte, gemeinsam!, community’sch, zujubeln können.

Dabei war mit Joseph Schnurr besonders die Titelpartie hinreißend lyrisch besetzt, der bisweilen den elegisch-weiten Ton englischer Tenöre hatte, und der junge, in den Höhen nahezu helle Baß Lars Grünwoldts, der die Tiefen dann um so resonierender intonierte, gab „die Bösen“ mit einer solchen Ernsthaftigkeit, daß man schon spüren konnte, es sei den seinerzeitigen Machthabern durchaus nicht um etwas gegangen, das sie als Unrecht empfanden, sondern das sie wirklich bewegte. So etwas glaubhaft, allein mit der Stimme, darzustellen, ist in keiner Weise leicht. Schön, wenn auch nicht so charakterstark wie der Ausdruck ihrer Kollegen, der Sopran Antje Marta Schäffers. Über die Solisten war jedenfalls nichts zu klagen. Sogar die drei Chorsolisten Johannes Krieg, Tobias Schwinger und Sebastian Thieme meisterten das knifflige Problem, mit starken Solosängern als ebensolche konkurrieren zu müssen. Sei‘s, daß sich besonders Schnurr sensibel dann – unmerklich nämlich – zurücknahm, sei‘s, daß sie für Kurzes wirklich sich hinaufhoben, die Partien gelangen ohne auch nur die Spur, ja einer Erinnerung an Aufführungen, in denen sowas schiefging. Das tat und tut es in den meisten Fällen – Meine Hochachtung, also, die Herren.
Ich schrieb von Loewes dramatischem Willen oben. Das geht jetzt ein bißchen gegen das andererseits vollkommen sauber spielende und klug von Anke Meyer geleitete Orchester. Nämlich wäre etwas weniger Klugheit gut gewesen, die, wahrscheinlich, um die Schönheit des Vortrags nicht zu gefährden, auf ein beinah durchgehend moderates Tempo setzte, so daß ich mich manchmal an Gustav Mahlers Partituranweisung erinnerte: „Nicht schleppen!“ Mitunter ist ein Wagnis nicht nur geraten, auch auf die Gefahr hin, daß einem der Fluß durcheinandergerät, so daß man ihn schnell wieder kanalisieren muß, aber doch Angst hat, ob man‘s auch kann – sondern das Wagnis ist gefordert. Das betrifft vor allem die Mengenszenen, die einiges mehr an Chaos gebraucht hätten, sowohl im Chor wie im Orchester. Das betrifft aber auch die dynamische Aktion der Instrumente insgesamt; zu wenig stach da heraus, zu viel sich flößender Mischklang war, der manchmal sogar, gerade dort in der Kirche, den Eindruck von Orgelspiel machte; kein Stamm, aus den abwärts treibenden Stämmen, bäumte sich da auf – kurz: das war alles Communio selbst, gebunden; viel zu zivilisiert wurde musiziert – protestantisch, könnte man sagen. Hier hätte tatsächlich katholisches Heidentum hingehört, mänadisches, denn Carl Loewe war nicht, wiewohl von dem gefördert, Carl Friedrich Zelter, sondern ein, in seinem Besten, Expressivkomponist: Romantiker eben und nicht ein Klassizist der Diplomatie. Wie das im Ganzen hätte klingen können, merkte ich dennoch, am Schluß, der Nr. 25, die der Flammenchor singt: Da ging es dann momentlang so her, wie sich das mit allem Entsetzen gehörte. Davor aber war nicht genug Feuer im Feuer. Es muß allerdings hinzugesagt werden, daß, in einer winterkalten, nämlich komplett ungeheizten Kirche zu spielen, der Musiker Finger auch nicht erhitzt – allein schon aus physiologischen Gründen. So eingemummt und fröstelnd saßen sie alle da.

Carl Lowe
JOHANN HUSS. Oratorium für Soli,
Chor und Orchester (1841).

Joseph Schnurr – Antje Marta Schäffer – Lars Grünwoldt.
Sängerchor der Ev. Brüdergemeinde
>>>> Rixdorfer Kantorei.
Winfried Müller-Brandes.
>>>> Junge Philharmonie Brandenburg.
Anke Meyer.

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